Soziale Sanktionen

Nichts als Symbolpolitik?

04:18 Minuten
Anna Netrebko auf der Bühne des Mariinsky Theaters in St. Petersburg.
Anna Netrebko solle sich öffentlich gegen Putin aussprechen, fordert die Berliner Staatsoper - solche Gesinnungsprüfungen sind gefährlich, meint Philipp Hübl. © picture alliance / dpa / TASS / Alexander Demianchuk
Von Philipp Hübl · 27.03.2022
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Oft wird bezweifelt, ob und was wirtschaftliche Sanktionen überhaupt bewirken können. Noch stärker stellt sich die Frage bei sozialen Sanktionen. Die sind fast immer Alibi-Aktionen. Überdies beschädigen sie die Demokratie, meint Philipp Hübl.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges sitzen wir vor den Bildschirmen und sehen erschüttert mit an, wie der Krieg des russischen Präsidenten Putin unschuldige Menschen tötet und ein demokratisches Land in Schutt und Asche legt. Die westlichen Länder haben sich entschieden, nicht direkt mit Waffengewalt, sondern vor allem mit Wirtschaftssanktionen auf den Angriffskrieg zu reagieren.
Seit ihrem ersten Einsatz im Jahr 1919 sind Sanktionen als „ökonomische Waffe“, wie Woodrow Wilson sie nannte, ein umstrittenes Mittel, um Druck auf Gewaltherrscher ausüben, denn sie ändern nichts am unmittelbaren Kampfgeschehen, sondern erhöhen allenfalls längerfristig die Kosten des Aggressors. Außerdem führen sie selten zu einem Regierungswechsel und treffen häufig die Falschen. Es bleibt eine offene Frage, ob sie Putin vom Krieg abhalten.

Soziale Sanktionen: radikaler Tribalismus

Ökonomische Sanktionen sind allzu oft Alibi-Aktionen von Politikern, die radikalere Maßnahmen scheuen. Umso mehr gilt das für soziale Sanktionen. Einigen Leuten reicht es nicht, dass sich Russland inzwischen in einem kulturellen Exil befindet, ausgeschlossen von der globalisierten Welt. Sie sind in einen radikalen Tribalismus verfallen, in ein Freund-Feind-Denken, und machen jetzt weltweit alle Russen für die Taten eines größenwahnsinnigen Autokraten verantwortlich.
Gerade im akademischen und kulturellen Milieu hat das teils absurde Züge angenommen, etwa als die Universität Mailand den russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski kurzzeitig vom Lehrplan genommen hat. Oder wenn die internationale Katzenföderation Katzen aus Russland von ihren Wettbewerben ausschließt.
Philipp Hübl, Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart (9.5.2015).
Macht sich Gedanken über die Gründe für Angriffe auf und Ausschlüsse von russischen Menschen in westlichen Staaten: der Philosoph Philipp Hübl.© Philipp Hübl

Ersatzhandlungen, die Ressentiments verstärken

Solche Ersatzhandlungen haben verschiedene Gründe. Einige wollen durch Aktionismus ihre Hilflosigkeit kompensieren, andere wollen sich als besonders tugendhaft hervortun oder alte Rechnungen begleichen.
In fast allen Fällen handelt es sich um Symbolpolitik, was man daran erkennt, dass die moralische Selbstdarstellung im Vordergrund steht und die praktische Wirkung der Maßnahmen gering oder gar nicht vorhanden ist – etwa, wenn Prominente auf Demonstrationen lautstark bekunden, wie schlimm der Krieg ist, was ohnehin schon alle denken. Das schützt die tapferen Ukrainer aber nicht vor Artilleriebeschuss und erhöht auch nicht den Druck auf die Bundesregierung.
Dagegen schaden handfeste Auftrittsverbote und andere „soziale Waffen“ den Idealen der Demokratie. Man trifft damit nämlich auch Russen, die den Krieg ausdrücklich verurteilen, wie den Pianisten Alexander Malofeev, der in Kanada nicht mehr an einem Wettbewerb teilnehmen darf.
Und man verstärkt die antirussischen Ressentiments, die in vielen Ländern bereits zu Gewalt geführt haben. In den USA wurden russische Restaurants angegriffen, in Kanada eine Kirche beschädigt und in Berlin eine deutsch-russische Schule in Brand gesteckt. Sogar Menschen, die polnisch sprechen, berichten inzwischen von Anfeindungen.

Gesinnungsprüfungen helfen nicht

Doch Putin beendet sein Morden nicht, wenn Daniil Medvedev in Wimbledon kein Tennis spielen darf. Der geforderte Ausschluss des Spielers entspringt der gleichen fatalen Idee von Kollektivschuld wie die weltweite Muslimfeindlichkeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Die Forderung der Staatsoper unter den Linden, die Opernsängerin Anna Netrebko möge sich öffentlich gegen Putin aussprechen, folgt derselben Logik wie die Gesinnungsprüfungen zu Zeiten der McCarthy-Ära.
Bei öffentlicher Kritik an einem autoritären Staat handelt es sich ohnehin um eine sogenannte supererogatorische Handlung, die über das hinaus geht, was die moralische Pflicht verlangt: Die Demonstranten in Russland sind gerade deshalb bewundernswert, weil man ihren Mut nicht von jedem Einzelnen erwarten kann, zumal wir vom heimischen Sofa aus die Gefahren für diese Personen und ihre Angehörigen gar nicht abschätzen können.
Ideen wie Kollektivschuld und Gesinnungsprüfungen widersprechen nicht nur den Menschenrechten, sondern auch dem liberalen Individualismus, auf den die Demokratien der Welt zu Recht stolz sind und den wir gegen Diktatoren und andere Feinde der Freiheit verteidigen müssen. Im Notfall mit Waffen – aber nicht mit Symbolen, die bloß der eigenen Selbstvergewisserung dienen.

Philipp Hübl ist Philosoph und Gastprofessor für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Werte prägen und die Polarisierung verstärken“ im Verlag C. Bertelsmann.

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