Hoyerswerda

Von Katja Bigalke · 28.10.2007
Hoyerswerda in Sachsen, eine DDR-Retortenstadt, die der Schauplatz von Brigitte Reimanns großem Roman "Franziska Linkerhand" (1973) ist. Eine junge Architektin mit hohen Idealen geht in die Provinz, um dort - in Form von Plattenbauten - eine bessere Gesellschaft aufzubauen.
Gerät in Konflikte mit dem System, eckt mit wilden Liebesgeschichten an und begräbt schließlich ihre Träume. Heute werden die Häuser, die sie damals entwarf, wieder abgerissen. Hoyerswerda ist die "Schrumpfende Stadt" Ostdeutschlands. Eine Erkundung dieser mit Utopie aufgeladenen Stadt mit Dorit Baumeister, einer heutigen Architektin, und Martin Schmidt, dem Leiter des Brigitte Reimann Begegnungszentrums.

"Das ist ein Abenteuer. Ein Wagnis von dem große Architekten geträumt haben. Eine neue Stadt bauen ein paar Hundert Hektar Land, auf denen man eine städtebauliche Idee verwirklichen kann – und wem hat man je eine solche Chance geboten? Niemeyer mit seinem Brasilia, Corbusier, den Kiruna-Leuten ... Und Schafheutlin mit Neustadt fügte sie hinzu."

"Die Stadt ist leer man hat ja manchmal das Gefühl man muss raus und dann sind die Kneipen leer und die Straßen, der Verlust an Menschen an Bewegung an Urbanität. Das tut schon weh – schrumpfende Städte das ist nun mal so dass Menschen gehen ..."

Hoyerswerda, acht Uhr morgens. Gleichförmige Plattenbauten säumen die menschenleere Hauptstraße. Kästen in hell-, dunkel und mausgrau.
Hoyerswerda - die schrumpfende Geisterstadt in Ostsachsen: Vor vierzig Jahren ist es die sozialistische Vorzeigemetropole. "Neustadt" nennt sie die junge Schriftstellerin Brigitte Reimann euphorisch in ihren Büchern. Weil damals in den Sechzigern hier etwas Neues, Zukunftsweisendes beginnen soll.

"Natürlich ist das interessant gewesen, mit dem was man hier vorhatte, etwas entstehen zu lassen, wofür es kein Beispiel gab: Die Stadt der Moderne, die funktionale Stadt war ein großer Versuch."

Dorit Baumeister ist Architektin, wie Franziska Linkerhand, die Titelheldin von Brigitte Reimanns berühmtesten Roman. Baumeister ist mit ihrem Auto auf dem Weg zum Ortsteil "WK V". Die Abkürzung steht – hochfunktional – für fünfter Wohnkomplex. Ganz in der Nähe – in Komplex 8 - ist sie groß geworden.

"Ich bin 63 geboren in Mecklenburg und 68 nach Hoyerswerda gekommen. Mein Vater war Architekt und hat ein neues Betätigungsfeld gesucht und dann hat Hoyerswerda geantwortet. Das war alles so grau - noch keine Straße, nur Beton. Das war für mich ein richtiger Schock."

Sie biegt in eine Seitenstraße, parkt den Wagen vor einer im Abriss begriffenen Häuserreihe. Die Erinnerung an ihre Kindheit ....
Baumeister klappt den Rückspiegel herunter, ordnet den dunklen, hoch-toupierten Bubikopf, nimmt das Taschenbuch aus dem Handschuhfach.
"Franziska Linkerhand" erzählt die Geschichte einer Idealistin, die an der sozialistischen Realität zerbricht. An Mangelwirtschaft, Bürokratie und Fantasielosigkeit, die verhindern, dass aus der Bergarbeitersiedlung um das Gaskombinat "Schwarze Pumpe" eine wirklich lebenswerte Stadt wird. Immer schonungsloser wird ihr Blick im Laufe des Romans. Baumeister liest eine typische Stelle vor.

"Neustadt hat im Republikmaßstab den höchsten Geburtenzuwachs, das ist statistisch belegt. - Wie erklären Sie sich das? - Sehr einfach. Drei Faktoren: die altersgemäße Zusammensetzung der Bevölkerung; soziale Sicherheit, keine Wohnungsnot.
Sie haben den vierten Faktor vergessen. - Ja? sagte er argwöhnisch.
Langeweile. Um sieben ist die Stadt tot, toter als Pompeji, sagte Franziska. Was soll man tun? Fernsehen oder Kinder machen."

"Stimmt, ja Langeweile da erinnere ich mich dran. Es war alles immer so gleichförmig, bei jedem wusste man, wo die Schrankwand steht, es gab keine kulturellen Angebote. Die Kulturhalle kam erst 1984. Aber es gab enorm viele Kinder. Jetzt gibt es die gegenläufige Entwicklung."

Von ehemals 70.000 Einwohnern sind heute nur noch 30.000 da. Seit die Schwarze Pumpe nicht mehr pumpt, schrumpft Hoyerswerda auf dramatische Weise.

"Die Statistiken tragen immer die rote Laterne, wenn es um absolute Zahlen geht: höchste Abwanderung. Der meiste Abriss, die höchste Arbeitslosigkeit. Alterung heute 47 Jahre im Durchschnitt, wir sind die am schnellsten gealtert Stadt Deutschland. Nach der Wende war der Alterdurchschnitt 35, in der DDR 29 Jahre."

Baumeister will den Abbau nicht einfach nur vollziehen, sondern kreativ gestalten. Sie zeigt auf das halb demontierte Wohnhaus vor sich. "Hier wird die Platte nicht einfach abgerissen, sondern umgestaltet", sagt sie. "Nur die oberen Stockwerke kommen weg, die unteren werden verändert und erhalten."

Durch eine Lücke im Zaun schlüpft sie auf die Baustelle. Wie ein gefräßiger Saurier in einem Spielberg-Film zermalmt ein Bagger ganze Betonwände. Gefüttert von einem Kran, der Stockwerk für Stockwerk abträgt.

Baumeister – in modischem Trenchcoat und Jeans - kämpft sich mit ihren spitzen Stiefeletten durchs Geröll.

Mit Jens Müller, dem Bauleiter, besichtigt sie den vierten Stock des skelettierten Gebäudes. Kahle Wände zeichnen die ehemaligen Wohnungsgrundrisse nach. Beinahe zärtlich streicht sie über den porösen Beton.

"Das sind die berühmten Sandadern - haben nicht richtig gemischt. Das ist ein bekannter Mangel der Platte. Da kommen Erinnerungen hoch. In den 70er Jahren, wo die das Stadtzentrum gebaut haben, da ist auch diese Reihe entstanden ist nicht lange her.
Es wurden ja verschiedene Typen entwickelt, das ist der Wohnungsbau 70. Hier die berühmte Durchreiche. Bad, Küche ohne Fenster, die durchreiche zum Wohnzimmer hin. Für die damalige Zeit ein sehr moderner Grundriss."

Fünf Platten will Baumeister für eine Dauerausstellung über die Neustadt. Müller malt mit Kreide Kreuze an die ausgewählten Wände. Erster Termin an diesem Tag – erfolgreich absolviert. Die Architektin als Archäologin der Platte.

Baumeister ist zufrieden. Wie sie zufrieden sein kann, in einer Stadt in der es nichts mehr zu bauen gibt? Sie lacht. Sie lacht überhaupt viel.

"Das schmerzt natürlich, wenn man einen Beruf hat, etwas zu schaffen und dann geht es nur um ein Thema: Abriss, etwas vernichten und daraus noch Kraft zu schöpfen und das als gestalterisches Mittel zu begreifen, das war für mich ein schmerzhafter Prozess. Auf der anderen Seite gibt es sehr viele Aktivitäten von einzelnen Gruppen, Vereinen Menschen, die sehr engagiert sind. Auf jeden Fall ist Pionierarbeit erforderlich."

Der 69-jährige Martin Schmidt – graue Haare, große Brille, schlichter dunkler Anzug - ist einer der Pioniere des neuen Hoyerswerda. Als Vorsitzender des Kunstvereins kümmert er sich um das Erbe von Brigitte Reimann. Seit der Veröffentlichung ihrer Tagebücher vor zehn Jahren und der Verfilmung mit Martina Gedeck erlebt die 1973 verstorbene Schriftstellerin eine sensationelle Wiederentdeckung. Besucher aus ganz Deutschland kommen, um sich über Reimanns Leben zu informieren. Schmidt führt sie durch Hoyerswerda, erzählt Anekdoten aus einer untergegangenen Epoche.

"Das war ja ne sehr hübsche Frau und da gibt es die Geschichte – sie musste einmal in einen Heizungskeller und der war überschwemmt und dann trägt sie so ein Installateur auf den Armen durch den Keller. Dieses Miteinander hat sie sehr genossen, auch wenn sie nach der Arbeit mal einen trinken ging. Sie saugte die Schicksale in sich ein ..."

Martin Schmidt hat Brigitte Reimann noch persönlich gekannt. "Eine Freundin", sagt er andächtig, "mit der wir Bücher ausgetaucht haben und Musik."

Die kleine Senioren-Gruppe, die die Zwei-Stunden-Tour gebucht hat, ist beeindruckt von ihrem Zeitzeugen, der 1966 als junger Theologe nach Hoyerswerda kommt und später zum Ingenieur umschult.
"Wollten Sie hier eigentlich mal hier weggehen? - Nee das nicht, wenn man angebunden ist das Leben selbst gestaltet ... Die Illusion, dass man irgendwo das perfekte Leben findet. Das gibt es nicht, wenn man gefordert ist, ist man am richtigen Ort ..."

1966 ist der Ort auch noch richtig fortschrittlich:

"Die Wohnungen mit Kochnische waren ein großer Vorteil. Hier war das hochmodern: Fließendwasser, warmes Wasser das war der Traum. Das erlebt ja auch Brigitte Reimann - die kriegt ja auch das erste Mal eine Wohnung."

Die Original-Wohnung der Schriftstellerin kann man nicht besichtigen. Aber eine, die ganz genauso aussieht und jetzt Brigitte-Reimann-Begegnungsstätte heißt.

Die zwei kleinen Räume sind mit Erinnerungsstücken vollgestopft: Bücher, Kunstdrucke, Fotos und natürlich eine alte "Erika"-Schreibmaschine.

"Genau in der Größe war das Arbeitszimmer von Brigitte Reimann ..."

Für die Gruppe gibt es Kaffee und Kekse, Schmidt öffnet im Nebenzimmer das Fenster zum Garten.

"Da - hören sie, die Amseln singen. Das ist doch eine ideale Stadt."

Als Brigitte Reimann ihre Romanheldin Franziska Linkerhand in "Neustadt" einziehen lässt, empfindet die nicht ganz so viel Freude. Martin Schmidt greift eines der Exemplare vom Besuchertisch, findet schnell das passende Zitat.

"Die Möbel waren hell und von aufdringlichem Zweckbewusstsein: Ein Tisch, ein Stuhl, auf dem man sitzen, ein Schrank, in dem man Kleider hängen konnte, und ein Bett, das ausschließlich dem Schlaf, der Reproduktion tagsüber abgenützter Kräfte diente und niemandem erlaubte, auf einer Matratze herumzuhüpfen, in sein Kopfkissen zu heulen oder unkeusche Träume zu träumen."

Schmidt, der Reimann-Kenner, probiert sich in psychologischer Ausdeutung.

"Da war die Einsamkeit, die sie überfallen hat in den Wohnungen, wenn sie alleine war, weil der größte Teil der Bewohner war ja in den Fabriken und diese Einsamkeit beschreibt sie. Die Einsamkeit einer Frau, die fremd ist. Der sich schwer die anderen anschließen."

Aber Brigitte Reimann verkriecht sich nicht. Sie bringt Leben in die Neustadt, organisiert Lesungen, spielt Jazz-Platten im Jugendclub. Schmidt muss noch immer schmunzeln wenn er an ihren Artikel "Kann man in Hoyerswerda küssen?" denkt. Damals lassen die spärlichen Baumreihen noch viel freie Sicht auf die kahlen Häuserreihen ...
Dann liest Schmidt seine Lieblingsstelle und es klingt fast, als sei diese Liebeserklärung von ihm.

"Er sah plötzlich, warum er sie liebte, dass er ihr anhing eben wegen ihrer Absolutheit, ihrer Forderung an sich und die Welt, und einer ungebrochenenen Fähigkeit, sich leidenschaftlich zu engagieren, zu schwärmen oder zu trauern."

Dorit Baumeister hat die Seiten gewechselt. Von der Neu- in die Altstadt, wo die Architektin ein Haus saniert. Es hat schon mehrere hundert Jahre auf dem Buckel.

Denkmalschutz. Gebetsmühlenartig erklärt Baumeister ihren Handwerkern, was das heißt: "Ja, die alten Dielen werden wieder verwendet auch wenn sie wirklich oll wirken. Nein an der Toreinfahrt wird nichts verändert, auch wenn das unpraktisch ist."
Baumeister grinst, als wolle sie sagen. "So eine Baustelle erwartet niemand in Hoyerwerda, oder?" Nein, wirklich nicht.

"Hier ringe ich um Substanz, die deutlich älter ist, und in Neustadt schmeißen wir die Platten weg. Komischer fänd ich es aber auf einer Baustelle zu sein, wo neu gebaut wird. Dann ist es schon interessanter zu sanieren, um die nutzbar zu machen. Das gehört auch dazu, das läuft nach wie vor, obwohl an die 5 bis 6000 Wohnungen abzureißen sind."

Dorit Baumeister versucht die wenigen Ortsteile zusammenzuhalten, in denen die Menschen überhaupt noch wohnen wollen.

"Wir haben es genannt: die dritte Stadt – Alt- und Neustadt, beinhaltet auch zwei Charaktere alt und neu, aber mit einem neuen inhaltlichen Geist. Für mich wäre die schlimmste Vorstellung, wenn ich wüsste, es geht alles zurück auf diese Ackerbaugeschichte."

Kritisch inspiziert sie den morschen Dachboden, feilscht mit dem Tischler um jeden Zentimeter alten Holz. Ein Ackerbau-Häuschen vor dem Verfall retten oder Teile der Neustadt vor dem Abbruch. Für Baumeister ist das Teil des gleichen Projekts – auch wenn das nicht alle in der Stadt so sehen.
Doch Baumeister ist genauso hartnäckig wie Reimanns Romanheldin. Sie blättert in ihrem "Franziska Linkerhand"-Exemplar. Sucht nach der Stelle, wo Linkerhands Chef zum x-ten Mal erklärt, dass die Neustadt nicht für Utopisten gebaut wird, sondern für Realisten. "Immer eine Frage der Perspektive", kommentiert Baumeister und liest:

"Sie haben nicht die richtige Optik, nein, nicht die richtige Optik. Sie sehen unsere Erfolge nicht, Wohnungen für die Werktätigen, niedrigsten Mieten in Europa, mit der Zahl der Krippenplätze liegen wir an der Weltspitze. Dass muss man doch sehen", sagte er fast beschwörend. "Wir haben ein für alle Male mit dem vom Profitstreben diktierten Kapitalismus Schluss gemacht, das ist eine historische Leistung, Häuser ohne Hinterhöfe, die Wohnsiedlung im Grünen."

Baumeister, die in ihrer Jugend die Plattenbauten hasst, sieht sie heute gerechter. Sie gehören zu Hoyerswerda und seiner Geschichte – man kann sie nicht einfach auslöschen.

"Viele Dinge, die die Stadt heute hat, sind nur entstanden wegen der Neustadt. Auch das, was man sich unter städtischem Leben vorstellt – ich versuch den Spagat und wünschte mir ein gemeinsames Nachdenken an einem Konzept und einer Idee, damit die Menschen etwas Motivierendes haben, um hier durchzuhalten."

Die Architektin verabschiedet ihre Handwerker, gönnt sich eine Zigarettenpause auf der Steinbank im Garten. Die Arbeit konfrontiert sie immer wieder mit der Vergangenheit – ihrer eigenen, die der Stadt, und auch die von Brigitte Reimann.

"Sie gehört zu Hoyerswerda und hat mich auch geprägt. Auch danach als Architektin und meine ethische Vorstellung von dem Berufsbild, welches man auch nicht verlassen sollte."

Martin Schmidts Besuchergruppe ist auf dem Weg zur letzten Station in der Neustadt – dem Zentrum. Der Kunstvereinsvorsitzende zeigt alte Fotos aus den Sechzigern, vergleicht die kahlen Plätze mit den grünen Oasen von heute.

"Die Skulptur steht heute im Verborgenen – das nackte Kind. Im prüden Sozialismus wurde vorgeschlagen ihm die Hose anzuziehen – Ne bestimmte Stelle war immer sehr golden ..."

Im Stadtzentrum dominiert die neue Shoppingmall: Mit Rossmann, New Yorker, Deichmann und Co. Links: die Lausitzhalle – ein Palast der Republik in klein und arm. Rechts: das typische DDR-Warenhaus mit Wabenfassade und Flachdach. Es steht leer – Karstadt hat aufgegeben.
Ein Zentrum, das keines ist. Heute nicht. Damals auch nicht, sagt Schmidts Ehefrau Helene, die bei Führungen immer aus den Reimann-Büchern vorliest. Sie erinnert sich noch gut an den trostlosen Blick, damals aus ihrem Neubau-Fenster.

"Sand, Sand, Sand – dann einzelne Buden, es war auch mal ne Stelle bezeichnet, wo das Theater hinsollte, aber das kam dann auch nicht – das war kein Zentrum. Das wurde versprochen aber nie gebaut. Es war keine Kultur hier. Man konnte keine Schaufenster begucken – das Kino war die komische Aula – war nichts hier - der Mensch kann auch nicht ohne Kultur leben. Wir fanden es nicht richtig."

Die Senioren schauen ein letztes Mal betreten – bevor sie sich vom sogenannten Zentrum abwenden. Die Stadt hat ihre Mitte aufgegeben.

"Vor vierzig Jahren war das noch anders", sagt Dorit Baumeister. Sie weiß das aus Erzählungen von ihrem Vater – und natürlich durch "Franziska Linkerhand".

"Der Bau des Stadtzentrums ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden. worden." Franziska setze sich auf ihren Stuhl. "Nein, das ist moralischer Totschlag. Das können sie nicht machen." Einen Augenblick verlor sein Gesicht den Ausdruck erzwungener Ruhe: "Ich, ich ich", sagte er heftig, "ja glauben sie denn, ich würde nicht auch lieber bauen, wie wir es geplant haben und für uns gebaut an hundert Abenden? Glauben Sie, ich habe mir nie gewünscht später einmal durch meine Stadt zu gehen, in einem Theater, auf Terrassen zu sitzen, den Leuten zuzusehen und denken zu dürfen: Das ist dein Werk, dafür hast du gelebt, und es hat sich gelohnt ... Ich habe Dutzend Mal so dagegessen wie Sie jetzt und Enttäuschungen schlucken müssen, und sie werden noch Dutzend Mal so dasitzen, und Sie werden es lernen, Schläge einzustecken ohne pathetische Schreie ... Gehen Sie an ihre Arbeit. Die Entscheidung ist auf höherer Ebene gefallen."

Nur ein paar hundert Meter weiter - am anderen Ende des Shoppingmall-Tunnels - steht Dorit Baumeisters orange Box. Ein leuchtender Kubus hinter den letzten verbliebenen Hochhausplatten: 27 mal 27 mal 27 Meter.

"Das ist mal ein Neubau. Ist aus Abbruchmaterial entstanden. Mit Holzfassade, knallig orange. Das Bürgerzentrum von Hoyerswerda möchte einen Neubau, wo der Prozess des Abbaus reflektiert werden soll. Mit Ausstellungen, Diskussionsrunden auf neutralem Boden. Auf der Nahtstelle zwischen Alt und Neustadt."
Als vor gut zehn Jahren der Potsdamer Platz in Berlin gebaut wird, gibt es dort eine ähnliche Box – in knallrot. Ein Infozentrum mit Aussicht auf eine Brache, die Stadt wird.
Von der orange Box in Hoyerswerda lässt sich das Gegenteil beobachten. Aus einer Stadt wird Brache. Ironisch ist die Box trotzdem nicht gemeint, sagt Baumeister.

"Ich mag diese temporären Sachen. Ich sehe in ihnen auch eine Chance, sich neue Inhalte zu erarbeiten, indem man sich ein bisschen ausprobiert. Gibt uns eine ganz gute Chance, um das ein oder andere anzubieten und zur Diskussion zu stellen. So was kann man nur in solchen Städten machen, in gesunden Städten gibt es das nicht."

Die orange Box als Treffpunkt, Dokumentationszentrum, Veranstaltungsort. Bislang steht nur die Fassade. An der Zukunft der Stadt wird noch gebaut. Baumeister zeigt auf die nackten Wände im Innenraum des Kubus.

"Ich trau mich gar nicht zu sagen, wie lange wir schon daran bauen …"

Das hat Dorit Baumeister auch schon mal gemacht: Abreißen. In dem Kunstprojekt Superumbau, vor zwei Jahren. Da reißt sie den Wohnblock ab, in dem sie als Kind gewohnt hat. Aber vorher wird die Platte noch bespielt. Hoyerswerdaer Rentner erzählen ihre Lebensgeschichte, Theaterregisseure inszenieren Brigitte Reimann.
Wenn Baumeister davon erzählt, leuchten ihre Augen. Die Stadt als Experimentierfeld begreifen. Der Umbau in den Köpfen. Das ist ihr Ziel.
Selbst für die riesige Brachfläche in der Mitte der Stadt hat sie ein Lächeln übrig. Ein Parkplatz im Nichts, bewachsen mit spärlichem Gras.

"Das ist halt unser Zentrum. Die Wiese. Ja – ist doch hübsch. Ich find die mittlerweile gar nicht mehr so hässlich. Sie hat auch was Überraschendes. Jetzt ist sie eine Brache, im Moment keine Nutzung - nicht mal als Grünraum, zum Picknicken oder Freiluft-Kino. Ich denke ne Bebauung, die uns an den Wachstumsgedanken erinnert, darf man sich nicht mehr vorstellen – man müsste ihr ne Nutzung zuführen. Ne art Bespielung mit temporären Projekten dass man versucht hier etwas experimentell vorzugehen."

Dorit Baumeister schlendert über die größte leere Fläche der Innenstadt. Am Horizont türmen sich die verbliebenen Plattenbauten auf. Über einem Dach wütet ein Kran. Sie klappt ein letztes Mal das Buch auf, liest das wohl berühmteste Zitat aus Franziska Linkerhand.

"Und zum ersten Mal dachte sie mit einer Art kalter Schadenfreude an die Vergänglichkeit dieser Siedlung, ihr Leben, das kurz sein wird wie das einer Goldgräberstadt: Die Kinder der Rollschuhläufer werden schon in fremden Städten arbeiten, wenn Bagger ihre Zähne in die Eingeweide dieser Stadt schlagen, und die Blöcke in Rauch und Staub zusammenstürzen, und die Wasser werden steigen und Boote mit weißen und orangenen Segeln über die Plätze und Viertel der Stadt gleiten, Vineta ohne Glocken, und über versunkene Erinnerungen an Kreiselspiel, Autolack und Asphalt und an die Kohlenflöze und Quittenblüten und Tellerklirren zur Abendbrotzeit."

"So viel Prophezeiung war auch damals schon möglich, die Kohlegeschichte ist endlich – ist halt früher eingetreten, dass der Rückzug angetreten ist - es kam schnell und radikal."

Wo früher Beton herrscht, wachsen heute üppige Bäume. Sie markieren die Straßen und Plätze von damals. Nur Gebäude sind kaum noch übrig. Wie ein Leuchtturm überragt ein einzelnes Hochhaus die flache Brache im Zentrum der Stadt. Dorit Baumeister liebt diese von einem Münchener Architekten umgestaltete Platte. Weinreben klettern an Drahtseilen die Außenfassade hoch. Irgendwann wird das Haus mit der pinkfarbenen Dachterrasse so zugewachsen sein wie der Platz. Das ist Zukunft, sagt Baumeister: Modernes Wohnen in einer grünen Stadt.

Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand
erschienen 1998, Aufbau-Verlag


Verwendete Zitate:
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