Horror-Pendeln in der Welt

Wie Städte vorm Ersticken retten?

Verkehrsstau in Delhi.
Ein wildes Durcheinander aus Autos, Mofas, Bussen - für viele Bewohner Delhis wird der Arbeitsweg zur Hölle. © imago / Hindustan Times
Von Silke Diettrich · 12.07.2018
Indische Megastädte wie Delhi verstopfen durch die Auto-Flut. Welche Konzepte helfen gegen die weltweit zunehmenden Staus? Das estnische Talin setzt auf kostenlosen öffentlichen Nahverkehr. Nichts für Delhi. Hier führte eine Busspur zum Klassenkampf.
Die Ring Road im Süden von Delhi. Aus acht Spuren machen die Verkehrsteilnehmer mindestens doppelt so viele. Autos, Mofas, Tuktuks kommen von allen Seiten. Totale Anarchie. Fußgänger sind hier eigentlich nicht vorgesehen, aber Ram Kali muss mit ihren Arbeitskolleginnen durch den Verkehrsdschungel hindurch. Ihre Bushaltestelle liegt auf der gegenüberliegenden Seite.
"Ich habe schon Angst, wenn wir hier die Straße überqueren. Nur wenn wir zu dritt oder zu viert sind, traue ich mich hier durch. Die Autofahrer überfahren uns fast. Die Motorradfahrer schreien uns an, dass wir hier nicht lang laufen sollen."
45 Grad im Schatten, Ram Kali hat sich ein Kopftuch übergezogen, um sich vor der Hitze zu schützen. Sie kommt gerade von ihrer Arbeit. Sie putzt in verschiedenen Büros. Früher hat sie hier in einem Slum gewohnt.
Aber als hier das größte staatliche Krankenhaus des Landes gebaut wurde, hat die Stadt den Slum räumen lassen. Tausende Menschen, darunter Ram Kali mit ihrem Ehemann und den drei Kindern, mussten an den Stadtrand von Delhi ziehen. Die Arbeitgeber aber sind hier geblieben. In das Viertel von Ram Kali, die mittlerweile über 50 Jahre alt ist – so ganz genau weiß sie das nicht –, sind nur arme Menschen gezogen. Niemand kann sich dort leisten, eine Putzfrau zu engagieren.
"Jetzt pendele ich schon seit 20 Jahren mit dem Bus zur Arbeit. Früher war es schrecklich, die Männer haben uns belästigt und schlimme Sachen zu uns Frauen gesagt. Sie haben uns einfach von hinten angefasst und es gab auch Prügeleien im Bus. Das ist schon besser geworden, aber es kostet jetzt auch mehr, die Preise haben sich verdreifacht."

Jeden Tag 1000 neue Fahrzeuge in Delhi

Dabei nimmt sie schon den billigsten Bus: ohne Klimaanlage, mit klapprigen Sitzen, die Schiebefenster klemmen. Umgerechnet 30 Cent kostet eine Fahrt. Der Bus mit Klimaanlage ist teurer. Bei einem Gehalt von um die 120 Euro im Monat ist jeder Cent wichtig. Manchmal steht oder sitzt Ram Kali bis zu zwei Stunden in Bus nach Hause:
"Oft fallen mir die Augen zu. Dabei habe ich große Angst vor Dieben. Es wäre furchtbar, wenn mir jemand meine Tasche klauen würde. Am Ende des Monats steckt mein ganzes Gehalt bar in meiner Geldbörse. Dann halte ich meine Tasche ganz fest auf dem Schoß, schau, so."
Ram Kali klemmt ihren Beutel zwischen die Oberschenkel und kreuzt ihre Arme darüber. Dabei läuft ihr der Schweiß vom Haaransatz den Nacken herab. Der Bus steht mehr, als er fährt, der Innenraum heizt sich wie eine Sauna auf. Unzählige Autos, Tuktuks oder Rikschas verkeilen sich um den Bus herum. Um die 1000 Fahrzeuge werden in Indiens Hauptstadt neu zugelassen, und zwar jeden Tag.
Eine stark befahrene Schnellstraße in Neu Delhi in Indien führt an einer Fabrik mit rauchendem Schlot vorbei. Das Bild ist blaustichig, der Himmel grau. Das Foto wurde wohl von einer Brücke aus aufgenommen.
Eine Schnellstraße in Neu Delhi führt an einer Fabrik mit rauchendem Schlot vorbei.© EPA
Die Stadt komme kaum hinterher, die Straßen für so viele Verkehrsteilnehmer auszubauen, sagt Professor Jagan Shah. Er arbeitet für das nationale Institut für Stadtentwicklung in Neu-Delhi:
"Wir denken erst seit einer Dekade überhaupt darüber nach, wie wir Städte planen sollen in Indien. Davor haben wir Städten kaum Bedeutung geschenkt. Und in so kurzer Zeit haben wir noch keine indische Lösung für unseren Verkehr gefunden."
Vorbilder in anderen Städten der Welt zu finden, ist schwierig. Alleine der Verkehr in Delhi hat sich in den letzten acht Jahren verdoppelt und damit auch die Zeit, die die Menschen auf den Straßen verbringen. Das einzige, was sich verringert hat, sei das Tempo, mit dem die Menschen in den Fahrzeugen vorankommen.
Das habe sich in den letzten Jahren zur Hauptverkehrszeit halbiert, sagt der Stadtentwickler Jagan Shah:
"Die Arbeiterklasse lebt außerhalb oder am Rande der Stadt. Sie brauchen manchmal um die drei Stunden um zur Arbeit zu kommen, das ist absurd."

Megastädte vorm Ersticken bewahren

Delhi und die anderen Megametropolen stehen unter großem Druck, schnell und effizient Lösungen für den Verkehr zu finden.
Eigentlich steckten die indischen Städte schon jetzt in einer Katastrophensituation, sagt Jaghan Shah. Stadtentwickler wie er müssten schon heute Lösungen finden, wie sie mit wenig Geld viele Menschen, auf schnellen Wegen von A nach B bringen, um die Einwohner in den Megastädten davor zu bewahren, dass sie stecken bleiben oder ersticken. Dabei gibt es vor allem in Indien noch ein weiteres Problem. Die Mittelklasse wächst und will nicht auf Privilegien verzichten. Dazu gehört zum Beispiel auch das eigene Auto.
Eine Busspur auf dem Mittelstreifen, eine günstige Alternative für den öffentlichen Nahverkehr, die auch schon in vielen südamerikanischen Städten gut läuft, führte in Delhi zu einem Desaster, erzählt Jagan Shah:
"Wir mussten die Busspur wieder abreißen. Die hat hier fast einen Klassenkampf ausgelöst. In einem Bus können zwar viel mehr Leute transportiert werden, aber es fahren nur arme Menschen mit dem Bus. Leute aus der Mittelklasse mit ihren Autos hatten dann eine Spur weniger auf der Straße. Das wollten die nicht hinnehmen."
Denn wer genug Geld für ein eigenes Auto hat, setzt sich in Indien niemals mehr freiwillig in einen Bus. Diese Menschen wollen ihre gerade gewonnenen Freiheiten und Privilegien nicht aufgeben.

Wer zu spät kommt, hat weniger Urlaub

Dazu gehört auch Sanchali Bose. Sie ist Mitte zwanzig, hat letztes Jahr geheiratet und arbeitet als Webdesignerin in der Cyberstadt Gurgaon, am Stadtrand von Delhi. Im Schnitt ist sie am Morgen 90 Minuten mit dem Auto unterwegs, wenn es keine größeren Staus gibt:
"Weniger chaotischer Verkehr macht definitiv mehr Sinn für mich, deshalb sind wir aus Delhi rausgezogen. Jetzt fahre ich zwar mehr Kilometer, bin aber schneller. Aber wer weiß, wie lange. Hier entsteht gerade eine neue Siedlung und schon jetzt gibt es seitdem definitiv mehr Verkehr, jeden Morgen bleibe ich hier jetzt stecken."
Manchmal fährt Sanchali selbst mit ihrem Auto zur Arbeit, manchmal lässt sie sich mit einem klimatisierten Uber-Taxi fahren. Der zunehmende Verkehr macht ihr Sorgen, denn wenn sie nur drei Mal 15 Minuten zu spät auf der Arbeit erscheint, wird ihr ein ganzer Urlaubstag gestrichen oder Teile ihres Gehalts. Das Uber-Taxi bringt sie am Schnellsten von Tür zu Tür. Noch. Aber es kostet: Umgerechnet mehr als zehn Euro am Tag, im Monat gibt sie mehr als ein Drittel ihres Gehalts für die Fahrten zur Arbeit aus.
"Um mein Gehalt zu sichern, muss ich also mehr Geld ausgeben."

Stau schenkt Frauen Zeit für sich

Trotzdem versucht Sanchali eher die positiven Seiten des morgendlichen Pendelns in den Vordergrund zu stellen. Vor wenigen Jahren noch wäre es undenkbar gewesen, dass eine Frau einen Job so weit von Zuhause hat und alleine zur Arbeit hätte fahren können.
"Es ist eigentlich auch die einzige Zeit am Tag, die ich ganz für mich alleine habe. Das beruhigt mich. Ich spreche mit Freunden, ich höre Musik. Ehrlich gesagt, wenn ich die drei Stunden am Tag zu Hause oder woanders wäre, dann wäre ich gehetzt. Das mag schräg klingen, aber es ist eigentlich ein Segen, ansonsten würde ich mir niemals am Tag so viel Zeit schenken, die ich nur für mich habe."
Die Putzfrau Ram Kali, die noch immer schwitzend im Bus sitzt, hätte lieber eine Arbeitsstelle um die Ecke, so könnte sie mehr Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen. Aber auch Ram Kali gewinnt dem täglichen Pendeln etwas Positives ab. Sie kann weder lesen noch schreiben, die Zahlen für ihren Bus aber kann sie jetzt entziffern:
"Ich war anfangs sehr nervös, alleine eine so weite Strecke zu fahren, das hat seine Zeit gedauert. Jetzt bin ich mutiger geworden, auch sonst in meinem Leben. Und weil ich pendel, kann ich Geld verdienen und sparen. Früher haben wir in einem runtergekommen Raum gewohnt, mit acht Leuten. Jetzt baue ich meiner Familie ein kleines Haus."
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