Fabian Köhler hat in Jena und Damaskus Politik- und Islamwissenschaft studiert. Als freier Journalist schreibt er für viele Magazine und Tageszeitungen über Flüchtlinge und Islam(ophobie) und reist durch den Nahen Osten oder das, was davon noch übrig ist.
Islam ist nicht gleich homophob
Homophobie unter Muslimen habe durchaus religiöse Gründe, räumt der Islamwissenschaftler Fabian Köhler ein. Und doch gebe es in der islamischen Welt eine Tradition gleichgeschlechtlicher Liebe, die sich nicht mit dem Klischee vom homophoben Moslem vertrage.
Und wenn ich Ihnen jetzt erzählen würde, dass der Islam nichts gegen Schwule hat? Dass "Homosexualität" als Begriff gar nicht im Koran auftaucht? Dass es für einen Jungen viel wahrscheinlicher ist, in der islamischen Welt gleichgeschlechtliche Erfahrungen zu machen als im Westen?
Es würde nichts daran ändern, dass viele Muslime ein gewaltiges Problem mit Homosexualität haben. Vielleicht waren es die laschen amerikanischen Waffengesetze, die Omar Mateens Tat in Orlando begünstigen. Aber am Ende kommt man nicht umhin festzustellen: der Mord an 49 Besuchern eines Schwulenclubs hat wohl auch damit zu tun, dass der Täter Moslem war.
Dennoch ist die Gleichung "Islam = homophob" zu einfach. Denn es gibt noch diesen anderen Teil der Wahrheit, der sich so schwer mit dem Wissen um die verbreitete Homophobie unter Muslimen vereinbaren lässt. Die weniger bekannte Geschichte von Liebe, Sex und Zuneigung handelt von Männern, die Hand in Hand arabische Straßen entlang laufen und sich zur Begrüßung ausgiebig mit Küssen überschütten.
Einst stand die islamische Welt für sexuelle Freizügigkeit
Wahrscheinlich werden keine anderen Männerfreundschaften körperlich so intensiv gelebt wie die unter Muslimen. Mehr noch: Gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen, wie Gruppenmasturbation und gegenseitiger Oralsex mit pubertierenden Kumpels, sind für heranwachsende Jungen in vielen islamischen Ländern Normalität.
Diese Offenheit gegenüber dem gleichen Geschlecht ist nur das Überbleibsel einer Zeit, in der "islamisch" im Westen synonym für "sexuell freizügig" stand. Rund 1000 Jahre lang überlieferten Dichter von Persien über Tunis bis Südspanien eine homosexuelle und homoerotische Vielfalt, die der Westen bis heute nicht erreicht hat.
Wie dem christlichen Europa war auch der islamischen Welt zwischen dem 8. und 19. Jahrhundert der Gedanke fremd, die sexuelle Sphäre in "homo-" und "hetero" zu teilen. Die Sexualmoral entschied sich eher an Praktiken des Liebeslebens als an der Identität der Menschen. Mit unterschiedlichem Ergebnis: Während das christlich-verklemmte Abendland "Sodomisten" auf dem Scheiterhaufen verbrannte, hielten islamische Gelehrte es für gottgegeben, das gleiche Geschlecht zu begehren.
Das alles ist lange her. Heute treiben die Überbleibsel einstiger Liberalität in einem Meer von sexueller Verklemmtheit, Bigotterie und Homophobie. Zu Recht kann man fragen, was es den Lebenden von heute oder den Toten von Orlando hilft, dass Muslime in längst vergangenen Zeiten nicht homophob waren. Die Antwort ist, dass die Zeiten gar nicht vergangen sind.
Tradition könnte muslimischen Homosexuellen von heute helfen
Die Gleichung "Islam = homophob" muss auch heute nicht aufgehen. Das ist keine Relativierung, sondern angesichts der schwulenfeindlichen Realität der islamischen Welt die eigentliche Tragödie.
Und dennoch zeigt diese Feststellung auch den Ausweg auf. Noch heute werben islamische Theologen für eine Interpretation des Koran, in der kein Gott gleichgeschlechtliche Liebe verurteilt. Auch heute streiten Islamverbände für die Gleichberechtigung von Homosexuellen.
Auch heute zelebrieren Menschen ihre Zuneigung zum gleichen Geschlecht in einer Innigkeit, die dem Westen unbekannt ist – und das nicht obwohl, sondern weil sie Muslime sind.