Hommage und Wiederentdeckung

Von Rudolf Schmitz |
Sie gilt als die bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst weltweit: die documenta in Kassel. Die Ausstellung "50 Jahre documenta" in der <papaya:link href="http://www.fridericianum-kassel.de/" text="Kunsthalle Fridericianum Kassel" title="Kunsthalle Fridericianum Kassel" target="_blank" /> bietet einen Rückblick. Er ist keine dokumentarische Pflichtübung, sondern lebendige Auseinandersetzung mit der Weltkunstveranstaltung.
Die Documenta, eine unglaubliche und schier endlose Geschichte. Es geht um Nachkriegskunst, gesellschaftliches Selbstverständnis, kuratorische Eitelkeit, unglaubliche Kraftakte, beigeisternde Erlebnisse, Skandale und Empörungen.

William Engelen: Was halten Sie vom Loch?: " Scheiße, Scheißdreck! Hoffentlich wird wenigstens Öl gefunden "

Volkesstimme anlässlich der Documenta sechs. Walter de Marias Erdkilometer wird gebohrt, die Wogen der Empörung schlagen hoch. Jetzt gibt’s das Ganze als musikalisches Spektakel, mit den Kasseler Bürgern als klassischem Chor. Denn die Ausstellung "50 Jahre Documenta" ist keine dokumentarische Pflichtübung, sondern lebendige Auseinandersetzung mit der Weltkunstveranstaltung. Die einmaligen Schätze des Kasseler Documenta-Archivs werden ausgebreitet, jede Documenta bekommt eine entsprechende Kammer mit Fotos, Texten, Statistiken, Filmzusammenschnitten.

Ausschnitt aus einem Fernsehfeature 1959: " Im Labyrinth der modernen Kunst sich zurechtzufinden, ist gewiss nicht jedermanns Sache. Dennoch täte man Unrecht, etwas abzulehnen, was man im Augenblick nicht versteht. Wir können nicht sagen, welches dieser Werke bleibenden Wert hat, aber wir sollten bedenken, dass jede Kunstepoche eine Auseinandersetzung mit ihrer Zeit ist, und als Spiegelbild und Ausdruck der Zeit sagt ein Kunstwerk oft mehr aus als ein ganzes Geschichtsbuch. "

Jede der Documenta-Zellen konfrontiert uns mit dem Zauber und den Skurrilitäten des Archivs. Aber jedes Mal gibt es auch den Kommentar eines zeitgenössischen jungen Künstlers, also die Sicht von heute. Nicht als Urteil über die jeweilige Documenta, sondern als Reaktion auf Archivmaterial. Volkes Stimme als musikalische Installation oder Arnold Bodes Tapetenentwürfe als abstraktes Bild: Da ist eine Menge Augenzwinkern dabei, aber nur so kann man verhindern, dass sich die Documenta-Geschichte in einen sterilen Mythos verwandelt.

Michael Glasmeier, Kurator dieser Ausstellung: " Also die Frage ist für mich, wie kann man heute die Documenta denken, wir heute als Zeitgenossen, was können wir damit anfangen, jenseits des Mythos, jenseits dieser ganzen Versprechungen usw. die damit verbunden sind. "

Die Antworten, die in den Kommentaren der jungen Künstler stecken, sind niemals denunzierend, aber immer aufschlussreich. Wer ahnt zum Beispiel, dass die berühmte Documenta 5 von Harald Szeemann, die als ein Stück anarchischer Poesie in die Geschichte einging, vielen der beteiligten Künstler zu enorm einträglichen Kunstmarktpositionen verhalf? Eine kulissenartige Raumarbeit von Sabine Groß bringt dieses Künstler-Ranking auf den Punkt.

Doch die Kasseler Ausstellung geht über die Auseinandersetzung mit dem Documenta-Archiv hinaus. Sie präsentiert außerdem mehr als 200 Documenta-Arbeiten aus 50 Jahren. Und das sind nicht die berühmten und die legendären Arbeiten, sondern diejenigen, die eher diskret und hintergründig wirkten. Werke also, die noch unentdeckte Energien bereithalten und die auch ganz andere Bedeutungskonstellationen annehmen können als seinerzeit geplant. Der Kurator Michael Glasmeier hat es verstanden, Werke gegen den Strich der Documenta-Geschichte zu bürsten, Kunst aus mehr als 50 Jahren in einen Dialograum zu stellen, der Entdeckung, Wiederentdeckung und Umwertung ermöglicht.

Glasmeier: " Ich habe versucht, hier so eine gewisse Gelassenheit, auch gegenüber der Kunstgeschichte und gegenüber dem Phänomen der Documenta, eine gewisse Unaufgeregtheit zu inszenieren, das war eigentlich mein Hauptthema, dass man nicht die Documenta-Hysterie hier wieder findet, sondern dass man plötzlich mal zur Ruhe kommt und sich überlegt, was war denn eigentlich? Es gibt in dieser Ausstellung hier keine Machtkonstellationen, keine Kämpfe um Räume oder irgendetwas, und diese Gleichgewichtigkeit, dieses Äquivalenzprinzip sollte diese Ausstellung durchdringen. "

Es gibt wunderschöne und gewagte Konstellationen in dieser Zusammenschau aus fünf Jahrzehnten: Wenn zum Beispiel das Selbstporträt mit Kamelienzweig von Paula Modersohn-Becker aus der Documenta 1 auf das selbstreflexive Video der finnischen Künstlerin Eija-Liisa Ahtila trifft, das auf der Documenta von 2002 gezeigt wurde.

Diese Ausstellung will nicht zeigen, was bleibt: obwohl manche Werke, wie das auf der letzten Documenta gezeigte Uganda-Video von Zarina Bhimji, sicherlich unauslöschlichen Eindruck gemacht haben. Diese Ausstellung will zeigen, was ebenfalls möglich gewesen wäre und belegt Umberto Ecos Auffassung vom unendlich offenen Kunstwerk.

Wenn man am Eingang auf die Wachsfiguren stößt, die der belgische Künstler Guillaume Bijl anlässlich der Documenta von 1992 präsentiert hatte - Joseph Beuys, Arnold Bode und Gattin, Jan Hoet mit seinem Schwan -, dann ist die Deutung offen: Documenta als mumifizierte Weltkunstveranstaltung, als Horrorkabinett der Wiedergänger und Zombies oder als auratisches und jederzeit zu belebendes Kulturevent? Erinnerung, Hommage, Wiederentdeckung und neuer möglicher Dialog – diese Ausstellung ist all das zusammen. Abseits der Aufgeregtheiten des Documenta-Betriebs schlägt sie vor, wie es sein könnte, wenn man den künstlerischen Reichtum der Documenta-Jahre wirklich bergen wollte.

Service:

Die Ausstellung "50 Jahre documenta" ist in der Kunsthalle Fridericianum Kassel vom 1. September bis 20. November 2005 zu sehen.