Hommage an Istanbul

Von Ute Büsing · 10.10.2008
Der Roman "Istanbul" von Orhan Pamuk ist ein autobiografisches Gesellschaftspanorama. Und: Es handelt von der großen Lebensliebe des türkischen Literaturnobelpreisträgers zur Stadt am Goldenen Horn. Nun liegt "Istanbul" auch als Hörbuch vor.
"Als ich auf die Welt kam, war Istanbul so heruntergekommen, geschwächt und isoliert wie nie zuvor in seiner zweitausendjährigen Geschichte. Seit ich denken kann, ist die Stadt von Armut gekennzeichnet, von Untröstlichkeit über den Verfall des Reiches, von der Melancholie, die von den Überresten aus großer Zeit ausgeht. So bin ich seit jeher damit beschäftigt, diese Melancholie zu bekämpfen oder mich dann doch, wie alle Instanbuler, ihr endlich hinzugeben."

Ausgangs- und Bezugspunkt für Orhan Pamuks lebendiges Geschichts- und Geschichtenpanorama ist das "Pamuk-Apartment", also die Wohnung in Familienbesitz, in die der "kleine Orhan" hineingeboren wurde. Von dort aus erkundet der große Erzähler nun erneut seine Stadt. In "Istanbul" blättert der 56-jährige Literaturnobelpreisträger gewissermaßen in einem doppelten Familienalbum: Er zeichnet den Verfall seiner Stadt nach – und daneben den gleichzeitig erfolgenden Abstieg seiner Familie, die streng säkular, der gebildeten Oberschicht entstammte. In seinen Erinnerungen an die Großmutter, die Mutter, den Onkel, an skurrile Stadtgestalten und Stadtviertel im Umbruch, leuchtet die verlorene Grandezza des großen Osmanischen Reiches auf.

Wie auf beängstigend schönen Schwarz-Weiß-Fotos passieren 50 Jahre "Istanbul" Revue. Zwischen pompösen Mietshäusern aus Beton und verwahrlosten Holzpalästen, pittoresken Armenvierteln und Moscheen, denen die Regenrinnen und die Bleibabdeckungen weggestohlen werden, wandelt der Erzähler traumhaft sicher auf den vertrauten Straßen seiner Stadt.

Figuren und Fixpunkte auf dem Seelenstadtplan des Orhan Pamuk werden von Ulrich Noethen nonchalant nachempfunden. Wie das magische Wort für "Wohlfühlwehmut" "Hüzün":

"Mit meiner Definition von ‚Hüzün’ als einem Gefühl, das durch Armut, Niederlagen und Verluste ausgelöst wird, komme ich zu der im Koran anzutreffenden Bedeutung des Wortes zurück. Aber Istanbul trägt sein ‚Hüzün’-Gefühl nicht wie eine ‚vorübergehende Krankheit’ oder einen ‚zu überwindenden Schicksalsschlag’, sondern wie etwas Selbstgewähltes. Diese spezielle Auffassung rückt zwar ‚Hüzün’ in die Nähe der Melancholie Robert Burtons, der da schreibt ‚Alle anderen Genüsse sind hohl und leer. Nichts ist so süß wie die Melancholie’, doch steht an der Stelle von Burtons Humor und Selbstironie im Istanbuler ‚Hüzün’-Erleben eher Stolz, ja geradezu Prahlerei."

Unablässig sucht der im Erspüren des Schmerzes in der Schönheit geübte Erzähler zwischen Pascha-Palast-Resten, Fünf-Euro-Prostituierten, Pistolenhändlern, inmitten von ostanatolischen Flüchtlingen, sunnitischen Türken, Roma und Kurden und den Fischern an der Galata-Brücke nach den Spuren glorioser Vergangenheit. Gleichzeitig analysiert er glasklar die eigenartige Vergesslichkeit der lauten schmutzigen Stadt am Meer. So wird "Istanbul" auch sinnlich erfahrbar als uralte Kulturstadt Konstantinopel, Zankapfel der Imperien, Projektionsfläche westlicher Orient-Sucher, unerschöpfliche Fundgrube historischer Versatzstücke:

"Wenn es schon nicht gelang, einen modernen, sei es nun westlichen oder autochthon geprägten Staat zu errichten, dann wollte man wenigstens die Vergangenheit vergessen, was dazu führte, dass die Kultur einem Vereinfachungs- und Bescheidungsprozess unterworfen wurde und dass man Häuser und Wohnungen wie Museen einer nicht gelebten Kultur einrichtete."

Das Orhan-Pamuk-Hörbuch wirkt wie ein magischer Türenöffner für das kosmopolitische "Istanbul". Mit derselben Behutsamkeit wie der Autor zeichnet Ulrich Noethen mit warmer ruhiger Stimme das feine Gespinst zwischen Privatem und Öffentlichen, versunkener Glorie und Neuzeit nach. So verbinden sich in der 722 Minuten langen NDR-Produktion Orient und Okzident zu einem brodelnden Sittengemälde, das schiere Lust macht auf die Megametropolis am Meer zwischen den Kulturen:

"Der Bosporus ist für mich noch immer eine dem Menschen wohltuende, die Stadt und das Leben dort aufrechterhaltende unerschöpfliche Quelle der Gesundheit und Zuversicht. Und manchmal denke ich mir: Solange man noch an den Bosporus kann, ist das Leben doch gar nicht so schlecht."

Rezensiert von Ute Büsing

Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Gelesen von Ulrich Noethen
Produktion NDR Kultur, Der Hörverlag 2008
11 CDs, 19,99 Euro