Holocaust-Überlebender

Der Pfadfinder

Von Ariane von Dewitz · 01.03.2014
"Nur die Optimisten haben überlebt", sagt der 92-jährige Felix Kolmer über seine Zeit als Häftling im Ghetto Theresienstadt und im Konzentrationslager Auschwitz. Er hat jahrelang versucht, den anderen Häftlingen zu vermitteln: "Wir schaffen das."
Felix Kolmer, der seinen gebückten Körper gegen die Februarkälte in einen olivgrünen Parka gehüllt hat, steigt langsam die Stufen zu einer Turnhalle hinauf. Der 92-jährige Holocaust-Überlebende aus Tschechien läuft in die große Halle, schaut sich um und schweigt erst mal.
Hier, im alten Ghetto Theresienstadt, war Felix Kolmer, der auch Auschwitz überlebt hat, während der Nazi-Diktatur für zwei Jahre inhaftiert - so wie 40.000 andere Juden. Krankheit, Folter und Tod sind hier Alltag - und doch gelingt es den Malern, Komponisten und Musikern unter den Gefangenen eine künstlerische Parallelwelt zu schaffen. So können die Häftlinge in Konzerten, Opern und Theateraufführungen wenigstens für ein paar Momente aus dem brutalen Lageralltag entfliehen - viele dieser Aufführungen finden damals in jener Turnhalle statt, in der Felix Kolmer jetzt steht.
"Die Kultur hat uns gestärkt, die Kultur hat uns gezeigt, dass es auch ein anderes Leben gibt, nicht nur das, was wir gerade durchleben, als Häftlinge in einem Konzentrationslager. Das hat uns also einen Mut gegeben, dass wir überleben. Es war so ein Kulturwiderstand."
Als Felix Kolmer 1941 ins Ghetto kommt, denkt er noch, es handle sich nur um einen kurzen Arbeitsausflug, doch die Nazis halten ihn von nun an gefangen. Als gelernter Schreiner muss Kolmer nun das Lager mitaufbauen. Die SS zwingt ihn, hölzerne Wachtürme zu errichten, mehrstöckige Schlafpritschen zu zimmern und für ihn am aller schlimmsten: eine Treppe für den Galgen zu bauen.
Niemals aufgeben
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Felix Kolmer im Rathaus im alten Ghetto Theresienstadt© Deutschlandradio / Ariane von Dewitz
Felix Kolmer ist widerständig, innerlich unbeugsam. Niemals, wirklich niemals aufgeben, sagt er sich und anderen immer wieder. Eines Tages kommt ein fremder Mann auf ihn zu, will dass er im Widerstand tätig wird. Kolmer ist sofort dabei. Sein erster großer Auftrag: Einen Fluchtweg aus dem Lager zu finden.
"Nach einem halben Jahr habe ich den Weg gefunden, durch die Mauer. Und geprobt: Und es ging! Dann bin ich zurückgekommen … Deshalb war ich in der Untergrundgruppe, dass ich den anderen helfe. Nicht nur mir. Deshalb bin ich zurückgekommen."
Für den überzeugten Pfadfinder ist es ausgeschlossen, den Weg allein für sich zu nutzen. Kolmer schaut jetzt ein wenig versonnen aus dem Fenster.
Denn es gibt noch einen anderen Grund, warum er damals im Lager bleiben will: Liane, seine spätere Frau, in die er sich damals gerade frisch verliebt hat. Kolmer sagt, dieses Glück und sein Lebenshunger haben ihm ermöglicht, auch größte Qualen durchzustehen. Als die SS eines Tages mehrere junge Männer auspeitscht, überlebt Kolmer nur durch Zufall.
Die Holzbank ausgepeitscht
"Man hat mich dann heraus getragen, weil ich konnte nicht gehen und ich hatte eine Grimasse im Gesicht, wahrscheinlich hat mir das weh getan, oder ... die SS hat behauptet, ich lache noch dazu. Und da hat mich die SS zu 25 weiteren Peitschenhieben, sollte ich bekommen. Also 50. Aber zum Glück, das Licht war in dem Keller auf einmal aus. Und der SS-Mann zählte weiter die Schläge - und der jüdische Häftling, der mich gepeitscht hat, hat die hölzerne Bank gepeitscht, wo ich angebunden worden war - und nicht mich. So bekam ich nur weitere fünf. Und die 30, die konnte ich überleben."
Eines Tages tritt das ein, wovor er stets am meisten Angst hatte: der Transport nach Auschwitz. Die Situation dort beschreibt er als die Hölle auf Erden. Drähte unter Hochspannung, Schornsteine, Gaskammern, sadistische SS-Leute und Kollaborateure - Folter und Mord bestimmen den Alltag. Ein besonders großer Feind: Der bohrende Hunger.
"Gleich am Anfang war ein Misthaufen. Und ich kann mich gut erinnern, an verfaulte Zwiebeln, die dort gelegen sind, auf dem Misthaufen. Wir haben uns gestürzt auf die verfaulte Zwiebeln, die ausgeworfen worden waren und haben sie genommen. Und die SS-Männer haben uns mit den Kolben geschlagen, das hat aber uns gar nix getan, wir wollten nur die Zwiebeln."
Das Gefühl für Zeit geht ihm verloren, einzig die Gedanken an seine Frau Liane, die in Theresienstadt zurück geblieben ist, halten ihn zu dieser Zeit noch am Leben. Appelle, Selektionen, Hungern, Todesangst - "all dies erlebten wir nur noch in einem fiebernden Halbbewusstsein", sagt Kolmer heute und will nun kurz an die frische Luft.
"Wir waren doch keine Menschen. Wir waren Tiere die ... die konnten sprechen. Deshalb hatten wir keine Namen, wir hatten nur die Nummer."
Der sichere Weg in den Tod
Eines Nachts dann erneut: eine Selektion. Kolmer hört Schreie, Schüsse, Befehle, bellende Hunde. Die SS treibt ihn und andere Häftlinge bis zu einer Rampe. Dort steht schon der Zug, ein Viehwaggon mit vergitterten Öffnungen. Kolmer weiß augenblicklich: Das ist der sichere Weg in den Tod. Er reagiert geistesgegenwärtig.
"Und in dem Nebenwaggon habe ich ehemalige Häftlinge von Theresienstadt gesehen. Da bin ich von meinem Waggon in der Nacht geflohen, im Schein von den Scheinwerfern, zum Nebenwaggon. Und das gelang mir. Und so kam ich mit diesem Waggon zu einem ganz anderen Nebenlager von dem großen Lager Groß-Rosen - und dieses Lager war viel, viel milder."
Felix Kolmer richtet seine strahlend hellblauen Augen auf das Gesicht seines Gegenübers und sagt dann: Nur meine positive Lebenseinstellung hat mir geholfen Not, Schrecken und Todesangst zu überstehen.
"… weil: Die Pessimisten, die überlebten nicht. Nicht in einem Konzentrationslager. Dort musste man möglichst sich denken: Ich muss. Und ich werde. Und ich will: Überleben. Und jeden Tag. Und jeden Moment. Und wer das nicht konnte, der starb.
Ein glückliches Leben
Felix Kolmer hat nach dem Krieg auch seine Frau Liane wieder getroffen, sie hat Theresienstadt überlebt. Gemeinsam ziehen sie nach Prag, gründen eine Familie. Liane stirbt im Jahr 1984. Heute lebt Felix Kolmer, der nach dem Krieg Physik studiert und ein bekannter Akustikprofessor wird, mit einer alten Klassenkameradin zusammen. Er sagt, er hatte ein gutes, ja, sogar ein glückliches Leben.
Seinen Optimismus hat er sich trotz all den Verlusten und Demütigungen bewahrt. Felix Kolmer hat noch einiges vor im Leben - für das er über Jahre so bewundernswert gekämpft hat.
"Ich hab noch Zeit ... Ich bin nur 92 Jahre alt (lacht)."

Hinweis: Ariane von Dewitz war mit Felix Kolmer in Theresienstadt auch auf Spurensuche des später in Auschwitz ermordeten Dirigenten Rafael Schächter unterwegs. Hören Sie dazu ihre lange Reportage "Wo war der Mensch?" - am Sonntag um 13.05 Uhr in der Sendung "Die Reportage". Hierfür hat sie auch die Proben für ein Konzert in Berlin besucht, das am 4. März 2014 den Mitgliedern des Chors von Theresienstadt gedenkt.