Holocaust-Überlebende nach 1945 in Bayern

Ausbildung für den Kampf um Israel

16:20 Minuten
Männer in Zivilkleidung haben sich auf dem Vorplatz eines Gebäudes in einer Reihe zum Appell aufgestellt.
Sie waren der brutalen NS-Verfolgung entkommen: In Bayern bereiteten sich Überlebende darauf vor, einen künftigen Staat Israel zu verteidigen. © Repro / www.nurinst.org
Von Thies Marsen und Jim Tobias · 27.01.2021
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Nach Kriegsende flüchten viele Jüdinnen und Juden aus Osteuropa vor neuen Pogromen nach Bayern. Viele junge Holocaust-Überlebende absolvieren dort heimlich eine militärische Ausbildung. Sie wollen sich für den künftigen Staat Israel engagieren.
Am 27. Januar 1946 ist es genau ein Jahr her, dass die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit hat. Genau neun Monate, dass die US-Armee die Konzentrationslager in Bayern befreit und München erobert hat. Mitten in der noch schwer vom Krieg gezeichneten Münchner Innenstadt findet eine ganz besondere Versammlung statt: die erste Zusammenkunft des Zentralkomitees der befreiten Juden in der amerikanischen Zone.
Mit einem ganz besonderen Gast: David Ben-Gurion, Vorsitzender der Jewish Agency, zukünftiger erster Ministerpräsident Israels. Ein Staat, den es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gibt – für dessen Gründung Ben-Gurion aber seit Jahren wirbt. Auch jetzt in München. Unter dem Applaus seiner Zuhörer fordert er von den USA, die jüdische Einwanderung nach Palästina und die Gründung des israelischen Staates zu ermöglichen.
Die Forderung nach einem jüdischen Staat – laut ausgesprochen im Sitzungssaal des Münchner Rathauses. Nur einen Steinwurf entfernt vom Alten Rathaus, dort wo Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels am 9. November 1938 die Reichspogromnacht angeordnet hat, den Startschuss zur physischen Vernichtung der Juden in Deutschland und Europa.

Sehnsucht nach einem Staat Israel

Nun sind in Münchens Stadtmitte die letzten Überlebenden des deutschen Massenmordes versammelt. Ein Kamerateam des Zentralkomitees der befreiten Juden hat diese denkwürdige Veranstaltung in Bild und Ton festgehalten, die Originalbänder befinden sich heute im Nationalen Filmarchiv in Israel. Darauf zu sehen und zu hören ist auch eine Ansprache von Salman Grinberg, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralkomitees:
"Wir sind Juden. Löst ein den Wechsel einer historischen Ungerechtigkeit, welche erst jüngst das Blut von sechs Millionen Menschen gekostet hat, und gebt uns zurück Erez Israel."
Die Auswanderung nach Palästina, das damals noch unter britischer Verwaltung steht, die Gründung eines jüdischen Staates – das ist die große Sehnsucht der 200 Menschen, die sich im Münchner Rathaussaal versammelt haben. Gemeinsam stimmen sie die "haTikwa" an – auf Deutsch: "Die Hoffnung" – heute die Nationalhymne Israels.
Doch Israel ist noch fern im Winter 1946. Tausende Überlebende der KZs und Gettos stecken im Land der Täter fest. Bayern gehört zur amerikanischen Besatzungszone, und weil die USA die Staatsgründung Israels zumindest nicht grundsätzlich ablehnen, strömen zehntausende Jüdinnen und Juden unter die Obhut der Amerikaner nach Bayern. Die meisten stammen aus Osteuropa. Ihre Schtetl sind zerstört, ihre Freunde und Verwandten ermordet, und schon wieder gibt es dort antisemitische Pogrome. Die Amerikaner nennen die heimatlosen Flüchtlinge Displaced Persons – kurz DPs.

Grundlagen für jüdischen Staat in Bayern gelegt

München ist so etwas wie die Hauptstadt der DPs. Hier leben zeitweise über 6000 von ihnen. Im Umland entstehen große DP-Lager – etwa in Landsberg am Lech oder Geretsried im Isartal. Dazu kommen Dutzende kleine Kibbuzim, verteilt auf Dörfer in ganz Bayern – etwa in Greifenberg am Ammersee. Dort werden in einer einstigen BDM-Schule mehr als 100 DPs untergebracht. Unter ihnen auch Walter Frankenstein. Er hat den Krieg versteckt in Berlin und Leipzig überlebt. Nun soll er im Auftrag der jüdischen Flüchtlingsorganisation Bricha Überlebende auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiten:
"Und dann kam ich also nach Greifenberg, das war so am 16., 17. Dezember '45, und habe dann mit den Jungs und Mädchen Sport getrieben und sie auch psychisch aufgebaut. Die kamen aus den KZs, die kamen von den Partisanen, die kamen aus Verstecken, junge Menschen, die viel durchgemacht haben. Und diese Menschen musste man wieder aufbauen."
Porträtbild von Walter Frankenstein
Walter Frankenstein bereitete Überlebende auf die Auswanderung nach Palästina vor - auch mit eigentlich verbotenen paramilitärischen Übungen.© Thies Marsen
Walter Frankenstein, Jahrgang 1924, ist der einzige Protagonist dieser Sendung, der noch am Leben ist. Heute wohnt er in Stockholm und ist immer noch stolz darauf, dass er kurz nach dem Krieg mit dabei war, als mitten in Bayern die Grundlagen für einen jüdischen Staat in Palästina gelegt wurden.
Damals ist allen Beteiligten klar: Die Staatsgründung wird nicht friedlich verlaufen. Denn die Briten behindern die jüdische Einwanderung nach Palästina massiv, und die bereits bestehenden jüdischen Gemeinden und Kibbuzim vor Ort werden regelmäßig Opfer von arabischen Überfällen. Deshalb gehören zur Ausbildung im Kibbuz in Greifenberg am Ammersee nicht nur Kurse in Handwerk und Landwirtschaft, sondern auch in Kampfsport und Schießen, erzählt Frankenstein:
"Ich hatte eine Parabellum, Parabellum hatte acht Schuss, glaube ich, im Magazin. Wie man das Magazin füllt, Zielen lernen. Auf dem Hof, da habe ich eine Zielscheibe aufgemalt, eine Figur und an der Brust hatte ich Ringe hingemalt und von 15, 20 Metern mussten sie schießen lernen."

Selbstverteidigung und militärisches Training

Solche paramilitärischen Übungen sind unter dem Militärrecht der US-Besatzungsmacht eigentlich streng verboten, dennoch werden sie in vielen DP-Lagern praktiziert. Federführend ist dabei die Hagana – auf Deutsch: Verteidigung. Eine jüdische Untergrundmiliz, die sich in Palästina gebildet hat und aus der später die israelische Armee hervorgehen wird. Die Hagana schickt Abgesandte nach Europa. Jehuda Ben David ist 1946 Vize-Chef der Hagana in Deutschland:
"Der Grund, warum wir nach Deutschland kamen, war einfach: Dort hielten sich die jüdischen Flüchtlinge auf. Ich empfinde es als eine Genugtuung, dass wir unser Programm mitten unter der deutschen Bevölkerung durchgeführt haben."
Schwarz-Weiß-Foto mit Männern und Frauen bei Selbstverteidigungsübungen im Hochlandlager nach dem Zweiten Weltkrieg
Aus Selbstverteidigungskursen wird bald ein regelrechtes Militärprogramm entwickelt.© Repro / www.nurinst.org
Was mit Selbstverteidigungskursen beginnt, wird bald zu einem regelrechten Militärprogramm weiterentwickelt. Ende 1946 eröffnet die Hagana in einer ehemaligen Kuranstalt im mittelfränkischen Wildbad westlich von Nürnberg eine geheime Offiziersschule. Nach wenigen Monaten wird Wildbad geräumt, die Hagana baut eine neue Schule auf – im ehemaligen HJ-Lager Hochland südlich von München.
Im Sommer 1947 beginnt dort der erste Lehrgang mit knapp 100 Teilnehmern – unter ihnen Gad Willmann, damals 17 Jahre alt. Der gebürtige Wiener hat den Krieg versteckt in Ungarn überlebt:
"Wir wussten überhaupt nicht, was auf uns wartet, überhaupt was das bedeuten soll, das war eine geheime Sache, sie wurde nicht publiziert. Und die Ausbildung war: Waffen, Topografie, Judo, Nahkampf mit Messer und mit Stöcken zum Beispiel, Gymnastik und scharfe Waffen."

Steine statt Handgranaten

Echte Waffen sind allerdings Mangelware. Statt Handgranaten werden Steine geschleudert. Vor allem aber werden die Offiziersanwärter gedrillt – Frühsport, Geländeübungen, Märsche durch die Voralpen-Landschaft:
"Da haben wir gesungen im Regen oder im Schnee, wenn wir dorten die Feldübungen machten, haben wir gesungen:
"Ich müsste übersetzen:
'Hu Ha, wer marschiert hier?
Regen, Schnee und Wind und Sturm, nichts wird uns einschüchtern'."
Schwarz-Weiß-Bild von Menschen, die mit einem Knie auf dem Boden sind und ausholen, um einen Gegenstand möglichst weit zu werfen.
Steine werfen statt Handgranaten: das militärische Training in Hochland. © Repro / www.nurinst.org
Auch Frauen gehören zu den ersten Offiziersschülern. So wie die 19-jährige Sarah Barmor – eine der letzten Überlebenden des Gettos von Lemberg:
"Es gab Orte, an denen die Juden einen Aufstand gemacht haben, etwa in Warschau, Białystok oder auch anderswo. Aber es hat nichts genützt, man hat sie in die Gettos gesperrt, in die Lager verschleppt, dort ermordet und verbrannt. Wir sehnten uns nach einem eigenen Land. Unsere einzige Hoffnung war die Gründung des Staates Israel. Jahrhunderte waren wir heimat- und schutzlos, sie haben uns verfolgt und ermordet. Die Juden wünschten sich ein eigenes Land, ein eigenes Militär. Dafür hat die Hagana gearbeitet."

"Jetzt wollten wir uns wehren"

Nicht mehr Opfer sein, das eigene Schicksal selbst in die Hand nehmen, mit der Waffe für einen jüdischen Staat kämpfen – Sarah Barmor meldet sich freiwillig für den Offizierslehrgang in Hochland:
"An diesem Lehrgang nahmen 80 Menschen teil. Einige der Absolventen blieben nach dem Abschluss des Kurses, um an der Ausbildung von weiteren Unteroffizieren mitzuwirken. Auch ehemalige Soldaten aus der Jewish Brigade, einer jüdischen Spezialeinheit innerhalb der britischen Armee, unterrichteten, wobei ihnen erfahrene Hagana-Offiziere aus Palästina zur Seite standen. Diese konnten natürlich nicht offiziell als Militärausbilder von Palästina nach Deutschland reisen, sie tarnten sich deshalb als Geschäftsleute. Unter ihnen waren auch Frauen, die haben uns ausgebildet."
Die Ausbildung von Offizieren für eine jüdische Armee ist der erste Schritt. Was folgt ist eine Art Generalmobilmachung. Alle jungen Leute in den DP-Camps und Kibbuzim der US-amerikanischen Besatzungszone sollen sich melden zur Musterung, getarnt als normale medizinische Untersuchung. Die Hagana führt quasi die Wehrpflicht ein – mitten im Land der Täter und für einen Staat, den es noch gar nicht gibt.
Porträtbild von Sarah Barmor
Mit der Waffe für einen jüdischen Staat kämpfen: Die inzwischen verstorbene Sarah Barmor überlebte den Holocaust - und ließ sich nach Kriegsende zur Offizierin ausbilden.© Jim Tobias
Gesandte aus Palästina reisen durch die US-Zone, um Rekruten anzuwerben. Bei einer Versammlung in Regensburg begeistern sie den damals 24 Jahre alten Otto Schwerdt. Der gebürtige Braunschweiger hat die Lager Auschwitz und Theresienstadt überlebt:
"Man hat uns ja immer wieder gesagt, warum habt ihr euch nicht gewehrt im KZ? Aber jetzt wollten wir uns wehren. Und jetzt wollten wir sagen, wir lassen es nicht mehr so zu, dass so etwas überhaupt passieren kann. Man konnte ja nicht wissen: Kann es in einem anderen Land wieder passieren? Wissen Sie, ich hasse Krieg. Ich hasse Waffen. Aber gut, damals haben wir gesagt, wir müssen, es geht nicht anders. Und daraufhin haben wir uns gemeldet, und man hat uns nach Geretsried gebracht.
Und dort waren wir, ich glaube, zwei Monate. Wir kamen hin. Wir wurden dort empfangen, haben unsere Personalien angegeben. Wir haben geschlafen in einer Baracke, da waren Kojen, wo wir geschlafen haben, und die ganze Zeit hat man uns gedrillt: Robben, wie man mit der Handwaffe umgeht - Waffen haben wir nicht gehabt. Man hat nur imaginäre Waffen gehabt, einen Stock oder irgendwie alles, was als Messer aussehen würde."

Jiddisch als gemeinsame Sprache

Die meisten Rekruten kommen aus Polen, die gemeinsame Sprache im Ausbildungscamp ist jiddisch, wie es in den jüdischen Schtetln Osteuropas gesprochen worden ist, die von den Deutschen allesamt vernichtet, deren Bewohner fast alle ausgerottet worden sind. She'erit ha-Pletah nennen sich die Überlebenden – der Rest der Geretteten. Nach Jahren der Verfolgung und Demütigung erleben sie nun erstmals wieder Momente der Kameradschaft, der Gemeinschaft:
"Man hat auch ein Lagerfeuer gemacht und hat nachts ums Lagerfeuer gesessen und gesungen, man hat die Hora getanzt und verschiedene Sachen, die wir gelernt haben, dort, das war ganz schön."
Sechs bis acht Wochen dauern die Ausbildungskurse im Lager Hochland. Den Abschluss bildet eine feierliche Zeremonie, erzählt Otto Schwerdt.
"Es war ein Wald mit Feuer. Und dann sind wir in der Reihe gestanden. Und da hat man uns vorgestellt, was man sagen soll. Das haben wir gesagt auf Hebräisch, konnten wir gar nicht verstehen."

Eid mit Pistole und Bibel

Choske Jardenaí erinnert sich noch Jahrzehnte danach genau an den feierlichen Eid der Rekruten. Er gehört damals in Hochland zu den Hagana-Ausbildern, die aus Palästina nach Europa geschickt worden sind:
"Da stand ein Tisch, auf dem eine Pistole und eine Bibel lag. Die Rekruten wurden im Schein des Lagerfeuers auf die Hagana vereidigt. Ich schwöre der Hagana Treue und bin bereit mein Leben zu opfern. Der Rekrut wurde gefragt: Bist du bereit? Könntest du alles hinter dir lassen, deine Familie, dein Heim? Der Rekrut wiederholte die Fragen und beantwortete sie mit Ja. Dann nimm deine Waffe und mach dich auf den Weg."
Eine Gruppe Frauen in Zivilkleidung läuft, im Hntergrund Baracken zwischen Bäumen
Die Offiziersschule hatte auch Rekrutinnen: Einen Kurs für Frauen gab es.© Repro / www.nurinst.org
"Und dann war zuletzt ein Fest, und wir wurden dann nachts mit Lastwagen über Ulm nach Frankreich gebracht. Und dann kamen wir nach Marseille, und von Marseille wurden wir nachts auf ein Schiff gebracht. Das war ein ganz schlimmer Kutter, ein schrottreifes Schiff."
So wie Otto Schwerdt ergeht es tausenden Jüdinnen und Juden: Von Marseille aus machen sie sich auf meist völlig überfüllten Seelenverkäufern auf die gefährliche Überfahrt Richtung Palästina. Die dortige Mandatsmacht Großbritannien stemmt sich gegen die jüdische Einwanderung, viele Schiffe werden von britischen Kriegsschiffen aufgebracht, die Passagiere auf Zypern interniert – das ändert sich erst im Frühjahr 1948 grundlegend.

Den Holocaust überlebt, im Befreiungskrieg gestorben

Der 14.Mai 1948 – David Ben-Gurion ruft den Staat Israels aus und wird dessen erster Ministerpräsident. Zwei Jahre nach seinem Auftritt auf der Versammlung des Zentralkomitees der befreiten Juden im Münchner Rathaus. Schon am nächsten Tag greifen die arabischen Nachbarstaaten den frisch gegründeten Staat an. Die Araber sind der israelischen Armee zahlenmäßig weit überlegen und viel besser bewaffnet. Doch die Israelis kämpfen mit dem Rücken zur Wand, sie haben nichts zu verlieren – und das gilt besonders für die zahlreichen jüdischen Soldatinnen und Soldaten, die aus den DP-Camps nach Palästina gekommen sind: Sie stellen rund ein Drittel der israelischen Armee, rund 20.000 Männer und Frauen. Und nicht wenige werden im Befreiungskrieg ihr Leben lassen.
Das seien Überlebende des Holocausts gewesen, sagt Gad Willmann, "und viele von unseren Rekruten aus Geretsried, aus Deutschland sind am ersten, zweiten Tag hier gefallen - den Holocaust überlebt und hier gefallen."
Walter Frankenstein sagt: "Solche jungen Menschen, die Europa im Krieg überlebt haben. Einzelne von ganzen Familien, die ausgerottet waren, die hatten überlebt durch Zufall, Kinder, die irgendwo versteckt waren, und die Eltern sind vergast worden. Das ist bitter, aber sie haben ihr Leben für einen Staat gegeben, von dem sie geträumt haben. Der für sie auch eine psychische Befreiung war."
"Stellen Sie sich das vor", sagt Sarah Barmor. "Es war wirklich ein Wunder, dass diese Menschen, die so viel durchgemacht haben, wieder neuen Lebensmut entwickelten und sogar ein ganzes Land aufgebaut haben. Das waren diese Menschen, diese Skelette, die Sie aus den Filmen kennen."
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