Holocaust-Spätfolgen

Vererbte Traumata

Wagen im früheren Konzentrationslager Auschwitz
Die Leiden der KZ-Überlebenden werden unbewusst vererbt. © dpa / picture alliance / Valeriy Melnikov
Von Jens Rosbach · 16.06.2015
Die Traumata, die KZ-Überlebende unter der NS-Herrschaft erlitten, haben sie unbewusst an ihre Kinder weitergegeben. Die zweite Generation leidet unter Selbstzweifeln, Ängsten und Depressionen. Experten beraten, wie ihnen geholfen werden kann.
70 Jahre ist der Holocaust jetzt her – und es gibt immer weniger Shoah-Überlebende. Dennoch wirken Deportationen und KZ-Gräuel bis heute nach. Denn auch die Kinder und Enkelkinder leiden unter den familiären Traumata – selbst Jahrzehnte später.
Experten wissen: Das Verfolgungstrauma, das auch Familien von Antifaschisten, Roma und Sinti sowie Homosexuelle betrifft, wird über Generationen "vererbt". Grund für den Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte, derzeit eine Fachtagung in Berlin durchzuführen. Hier diskutieren Experten, wie der sogenannten zweiten Opfer-Generation geholfen werden kann.
Der Vater von Petra Hörig hat einst im KZ gesessen – als Homosexueller.
"Von der Lagerhierarchie waren die Homosexuellen das Allerletzte. Das ist wirklich… das ist grauenvoll! Ja, die wurden als lebende Putzlumpen benutzt. Ja, und diese Erniedrigungen, die er erlitten haben muss, das muss katastrophal gewesen sein."
Hörig, 65 Jahre alt und Rentnerin, wusste jahrzehntelang nichts vom Verfolgungsschicksal des Vaters, auch nichts von seiner geheim gehaltenen sexuellen Orientierung. Sie bekam – als Kind - nur seine maßlosen Wutausbrüche mit.
"Ich kann mich nicht erinnern, dass er mich geschlagen hat, aber meine Schwester ist regelrecht von ihm verprügelt worden. Das ist auch für ein kleines Kind auch furchtbar, wenn Sie eine kleine Schwester haben und die greift sich der Vater und verdrischt die wegen Nichtigkeiten."
Dann der Schock: Mit elf Jahren musste sie erleben, wie sich ihr Vater vergiftete.
"Mein Vater hat sich 1961 das Leben genommen und dann zwei weitere Brüder von mir ebenfalls."
Prägung durch väterliches Trauma
Erst im Jahr 2000, fast 40 Jahre später, erfuhr Petra Hörig, dass die Nazis ihren Vater unter anderem in Sachsenhausen eingesperrt hatten. Dass er später unter schweren Depressionen litt, so wie ihre Brüder auch. Nach und nach verstand die damalige Verwaltungsangestellte, dass das väterliche Trauma auch sie geprägt hat. Bis heute leidet sie unter gesundheitlichen und seelischen Problemen.
"Ich merke einfach, dass ich immer noch am Trauern bin. Merke eben auch, ich bin alleine, ich habe keine Kinder, ich habe keine Familie mehr. Bei der Familie, die ich gehabt habe, bin ich nicht sehr erpicht drauf, mir selber eine anzuschaffen. Also da war das Interesse nicht sehr groß."
Ob Kinder von homosexuellen, von politischen oder von jüdischen NS-Verfolgten – viele von ihnen berichten über Selbstzweifel, Depressionen und Ängste. Der israelische Psychotherapeut Natan Kellermann spricht von Symptomen, die von den Eltern quasi vererbt wurden. Viele Kinder litten unter ähnlichen Bildern und Albträumen wie ihre Mütter und Väter.
"Wenn es um Ängste geht, man hat das Gefühl, dass immer kann eine neue Katastrophe geschehen. Man hört ein Klopfen an der Tür und glaubt man, jemand kommt dich abzuholen. Dann muss man sich vorbereiten, dass nichts geschieht."
Kinder behüten die Eltern
Miriam Spiegel: "Die andere Form von Angst, die von den Eltern häufig mitgeliefert wird, ist eine Angst, verlassen zu werden. Dass ihre Kinder sie verlassen würden, so wie ihre ermordeten Eltern und Angehörigen sie verlassen haben."
Miriam Spiegel, eine Schweizer Psychotherapeutin, bezeichnet die zweite Generation als überlastet. Kinder von NS-Opfern fühlten sich verpflichtet, ihre seelisch verletzten, empfindsamen Eltern zu behüten und zu beschützen. So komme es zu einem Rollentausch innerhalb der Familie.
"Die Kinder werden zu den Eltern von ihren Eltern. Und das bedeutet, dass sie sich nie ablösen. Bis zum hohen Alter."
In den Familien wurde nicht geredet
Viele Betroffene suchen, gerade in zunehmendem Alter, die Hilfe von Psychotherapeuten - so die Erfahrung des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte. Verbandsvertreter Michael Teupen berichtet, dass es bei den Therapien immer wieder um ein Problem geht: Dass in den Familien kaum über die Traumata geredet worden ist.
"Da ist 'ne Menge an Schutz bei den Eltern auch. Die wollen das Kind nicht damit konfrontieren und schweigen deswegen. Und dieses Schweigen belastet aber die gesamte Familienatmosphäre."
Nach Ansicht des Opferverbandes finden die Kinder von NS-Verfolgten bis heute zu wenig Beachtung. Es gebe in Deutschland eine sechsstellige Zahl von Betroffenen – doch alle stünden im Schatten der ersten Opfer-Generation - der ehemaligen KZ-Häftlinge. Verbandsaktivist Teupen fordert mehr Beratungs- und Therapieangebote für die jüngere Generation.
"Es ist natürlich ganz klar, dass – solange die erste Generation noch lebt – die Interessen und die Belange der ersten Generation absolut im Vordergrund stehen müssen. Das heißt aber nicht, dass man deswegen die Problematik der zweiten Generation außer Acht lassen sollte. Denn die kommt mit Sicherheit verschärft auf uns zu."
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