Holocaust im Schulunterricht

Erinnerungen in Pappschachteln

06:46 Minuten
Der Lübecker ehemalige Lübecker Geschichtslehrer Günter Knebel hält eine Pappschachtel in die Kamera. Er trägt eine Schiebermütze.
Die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten, wurde für den ehemaligen Geschichtslehrer Günter Knebel zum Lebensthema. © Deutschlandradio / Astrid Wulf
Von Astrid Wulf |
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Nationalsozialismus und Holocaust gehören zum Geschichtsunterricht. Doch wie thematisiert man die Verfolgung und Deportation von Millionen von Juden so, dass es die Jugendlichen nachhaltig berührt? Der Lübecker Pädagoge Günter Knebel fand einen Weg.
Es ist der 12. Juni 1941, als die zehnjährige Margot Prenski ihrer Freundin Marjon ins Poesiealbum schreibt: „Kein langes Gedicht: Nur die drei Worte – Gott schütze dich.“
Die junge Lübeckerin litt zu dieser Zeit unter den Repressionen der Nazis – wie viele jüdische Kinder und Jugendliche. Viele ihrer Geschichten seien jedoch weitgehend vergessen, sagt Günter Knebel.

Das einzelne Schicksal rückt in den Vordergrund

Dagegen wollte er etwas tun. Inspiriert haben den ehemaligen Geschichtslehrer Besuche der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, wo die Schrecken des Holocaust anhand einzelner Schicksale erzählt werden – die Jüdinnen und Juden aber nicht als Opfer, sondern auch als Überlebende gezeigt werden. 
„Es gibt natürlich hier furchtbare Dinge, die die Schüler erfahren. Zum Beispiel, dass die Geschwister Hanna und Hermann Mecklenburg nach Auschwitz deportiert und ermordet werden.“ Es gebe aber auch positive Geschichten von Überlebenden, die ebenso dokumentiert seien.

Wie haben Jugendliche die Verfolgung erlebt?

Was jungen Jüdinnen und Juden und ihren Familien passiert ist, wie sie die Zeit der Diskriminierung, der Verfolgung und des Terrors erlebt haben – ob sie den Holocaust überlebt haben –, die Antworten darauf hat Günter Knebel exemplarisch für fünf Lübecker Familien zusammengetragen und in Unterrichtsmaterialien gegossen, für Schülerinnen und Schüler ab der 9. Klasse.

Weil ich mir davon erhoffe, dass den Schülern dieses Material eher entgegenkommt, dass sie sich identifizieren können mit damaligen Kindern und Jugendlichen, und sie sich dadurch motivieren können, die Geschichte ein Stück weit selbst zu rekonstruieren.

Günter Knebel, Geschichtspädagoge

Für sein Projekt konnte Knebel auf die Recherchen von Heidemarie Kugler-Weiemann von der Initiative „Stolpersteine für Lübeck“ zurückgreifen.

Über 200 Biografien studiert

Sie hat sich mit 200 Biografien von Jüdinnen und Juden beschäftigt und dafür auch mit Überlebenden gesprochen. Sie weiß: Als Kinder und Jugendliche haben sie die Ausgrenzungen auf ganz besondere Art und Weise erlebt.
„Ich werde nie vergessen wie eine Frau, die war damals über 80 Jahre alt, in England, die ich interviewt habe, eine ehemalige Lübeckerin, sagte: Ihr Vater und ihr Bruder seien beide ums Leben gekommen.
Und: ‚Das Schlimmste war für mich, dass ich plötzlich nicht mehr mit meiner Freundin spielen durfte. Ihr Vater war Hausmeister in der Schule gegenüber und wollte nicht, dass seine Tochter weiter mit dem jüdischen Mädchen zu tun hat‘.“

Die Geschichten von Lübecker Familien

Die Unterrichtsmaterialien sind in Pappschachteln verpackt. Sie erinnern an Kartons mit alten Fotos, die so auch auf Großmutters Dachboden gefunden werden könnten.
Darin die Geschichten der fünf Lübecker Familien in fünf Umschlägen. Mit Hinweisen auf die Leben der Kinder und Jugendlichen auf Familienfotos und Bildern. Auch dabei: ein Fußball, und die Seite aus dem Poesiealbum, in das Margot Prenski schrieb.
Dazu bekommen die Schülerinnen und Schüler Hintergrundinformationen und die Aufgabe, Ereignisse und Erlebnisse der Kinder und Jugendlichen chronologisch zu ordnen.
„Es gibt in den Materialien eine Zeitleiste, mit den wichtigsten Ereignissen wie den Nürnberger Gesetzen, Reichspogromnacht“, erläutert Günter Knebel das Konzept. „Und damit erstellen die Schüler fünf Ausstellungen, die im Klassenraum aufgehängt werden und dann, wenn es fertig ist, der Klasse präsentiert werden.“

Positives Feedback von Geschichtslehrkräften

Der Lübecker Bildungs- und Kultursenatorin Monika Frank gefällt am Projekt vor allem die Idee, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit den Schicksalen Gleichaltriger beschäftigen, die auch noch in derselben Stadt lebten.

Dann sind es eben Lübecker Kinder, die im selben Schulgebäude waren wie ich heute. Oder die auf derselben Straße getobt haben. Das schafft einen anderen Berührungspunkt.

Monika Frank, Bildungs- und Kultursenatorin in Lübeck

Günter Knebel hat auf seine Arbeit bereits gutes Feedback von Geschichtslehrern bekommen, sagt er. Geplant ist, dass die Lehrerinnen und Lehrer Einführungen für das Material bekommen und selbst in ihrem Unterricht einsetzen. Bildungssenatorin Monika Frank will dafür sorgen, dass das Projekt in den Lübecker Schulen schnell bekannt wird.  
„Ich habe den Vorteil, auch für Jugendarbeit und die Volkshochschulen zuständig zu sein, wo es auch viele Antirassismus-, Demokratieprojekte gibt, die ganz bestimmt gerne damit arbeiten werden. Und wir arbeiten mit der Hansestadt an einem Konzept für Erinnerungskultur, wo das auch ein ganz wichtiger Baustein ist.“

Ein Lebensthema

Die Aufarbeitung des Holocaust im Geschichtsunterricht ist ein Lebensthema für den ehemaligen Lehrer Günter Knebel. Er hat schon viele Gedenkstättenfahrten mit Schülerinnen und Schülern unternommen, unter anderem nach Auschwitz. Auch dort sind die jungen Leute mit den Schicksalen junger Jüdinnen und Juden konfrontiert.
Für Käthe-Marie Wieseler und Lucja Nara Koll, 17 und 19 Jahre alt, waren das eindrückliche Erfahrungen.

Mitzubekommen, dass man immer weniger Rechte hat, kein Mitspracherecht – es hatte ja keinen Grund. Das wäre für mich das Schlimmste. Einfach nicht frei sein zu dürfen, rausgehen zu dürfen, was man ja sonst jeden Tag auch macht.“

Käthe-Marie Wieseler, 17 Jahre

Die sind im gleichen Alter wie wir gewesen – und hatten das ganze Leben vor sich. Ich bekomme häufig die Frage: Was soll ich nach dem Abitur machen? Das finde ich beängstigend, dass sie überhaupt nicht die Möglichkeit dazu hatten.

Lucja Nara Koll, 19 Jahre

Günter Knebel wünscht sich, dass auch sein neues Unterrichtsmaterial die Schülerinnen und Schüler berührt. Dass sie nicht nur etwas über den Holocaust lernen, sondern dass sie sich fragen: Was hat das alles mit mir und meinem Leben zu tun? Dass sie eine Haltung entwickeln. Und dass sich stark machen: gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus.
„Das wird ja leider nicht weniger, das wird mehr. Da ist die Frage: Was kann man dagegen tun. Und ich hoffe, dass das Unterrichtsmaterial ein Stück dazu beiträgt.“
Margot Prenski wurde nicht einmal ein halbes Jahr, nachdem sie ihrer Freundin ins Poesiealbum schrieb, mit ihren älteren Brüdern deportiert und von den Nazis ermordet.   

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