Holocaust

Jüdische Kantorin sucht neue Wege der Erinnerung

Von Svenja Pelzel · 25.01.2014
Die Berliner Kantorin Avitall Gerstetter ruft ihre von den Nazis verfolgten Vorfahren und alle anderen Holocaust-Opfer mit einem Musikprojekt in Erinnerung. Sie reist dafür von Auschwitz nach Berlin und hat prominente Unterstützung gefunden.
Avitall Gerstetter sitzt still und in sich gekehrt in einem Flugzeug von Berlin nach München. Lange, rote Locken rahmen ihr Gesicht ein, es wirkt mädchenhaft. Avitall ist ernst. In wenigen Minuten wird sie in München zwischenlanden und dort ihre 83jährige Großtante Jolly und deren Sohn aus Israel treffen. Beide hat sie viele Jahre nicht gesehen. Jolly ist der Grund für diese Reise.
"Als ich sieben Jahre alt war, war ich in Israel zu Besuch und habe meine Großtante Jolly getroffen, habe sie gesehen und habe auch ihre Nummer auf ihrem Arm gesehen und habe sie darauf angesprochen. Sie war sehr erstaunt, dass ich sie überhaupt darauf anspreche, das war für sie unfassbar, weil ihre Kinder das immer bis zu dem Zeitpunkt abgelehnt hatten, überhaupt etwas über diese Geschichte zu erfahren."
Die Geschichte, die Jolly der kleinen Avitall erzählt, geht so: Jolly und ihre große Schwester haben Auschwitz überlebt, die siebenjährige Rozsika und alle anderen Verwandten nicht.
"Sie war die Jüngste der sechs Kinder und sie war blond, blauäugig und angeblich war sie sehr dünn, hat nicht viel gegessen. Die Mutter hat dann immer Kekse gebacken und gesagt: Ihr anderen ihr dürft aber die Kekse nicht essen, die sind nur für Rozsika, damit sie zunimmt. Also, das sind so die persönlichen Erinnerungen. Und in Auschwitz angekommen, mussten sie sich dann in zwei Reihen aufstellen, und Rozsika wurde noch am selben Tag ins Gas geschickt."
Worte gibt es schon genug
Der Tod ihrer Schwester lässt Jolly ihr Leben lang nicht los. Auch Avitall nicht. Aus diesem Grund reisen die beiden Frauen jetzt gemeinsam mit Jollys Sohn und Avitalls Familie nach Auschwitz. Mit Hilfe ihrer alten Großtante möchte die Kantorin eine neue Form der Erinnerungskultur in Deutschland aufbauen. Denn Worte, so findet sie, sind alle gesagt. Einen ganzen Strauß an Aktionen hat sich Avitall deshalb ausgedacht, und das Projekt "we will call out your name" genannt - zu Deutsch: Wir werden deinen Namen rufen. Dazu gehören - neben der Reise - Konzerte, eine CD mit eigenen Songs, ein Kinderbuch mit Texten von ihr, ein interaktiver Online-Comic, Anstecknadel und Namensband.
"Also die Menschen erwarten es nicht von mir, aber ich erwarte es von mir. Ich finde es ganz wichtig, dass jeder seinen Beitrag leistet und versucht, diese Gesellschaft auch ein Stückweit mit verantwortlich zu verändern, zukunftssicher zu machen für jedermann. Und ich finde, wir tragen alle die Verantwortung."
In München wartet Jolly mit ihrem Sohn bereits am Flugsteig. Die kleine rundliche Frau trägt einen Hut mit großer Schleife, dazu eine weiße Kurzhaarfrisur. Obwohl es schon spät ist, strahlt die 83-Jährige alle mit ihren hellwachen blauen Augen an, verteilt Küsse und Umarmungen. Jolly freut sich sichtlich über das Projekt ihrer Großnichte. Es war ihr schon immer wichtig, die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten:
"Sehr schön. Sehr schön, was sie macht alles. Ich alle Zeit ich spreche, was ist passiert mit mir. Ganze Zeit ich erzähl für die Kinder. Ganze Zeit für meine Kinder, für mein Mann, für alle Bekannte. Immer."
Am nächsten Morgen ist es soweit. Mit 14 Jahren kam Jolly nach Auschwitz. Jetzt, fast 70 Jahre später, kehrt sie zurück.
Der Eingangsbereich des Konzentrationslagers mit Shop, Wechselstube und Kassenschalter ähnelt verstörenderweise jedem x-beliebigen Touristenort auf dieser Welt. Dennoch steigt bei Jolly die Anspannung, wächst ihr Redebedürfnis. Weil manchmal die deutschen oder jiddischen Worte fehlen, hilft Avitals Mutter und übersetzt aus dem Hebräischen:
"Angst, die ganze Zeit habe ich Angst."
"Das verlässt sie nicht, diese Angst, Sie hat immer Angst - ganze Zeit Angst."
"Nicht vergessen, kann man nicht vergessen, ich sehe alles, was ist passiert."
Arm in Arm beginnen Jolly und Avitall ihre Tour über das Gelände des KZs. Am Tor mit der weltbekannten Aufschrift 'Arbeit macht frei' kommen Jolly zum ersten Mal die Tränen. Hier wurden sie und ihre große Schwester von ihrer Mutter und der kleinen Rozsika getrennt.
"Und nachher die Mutter mit die eine kleine Schwester Rozsika diese Seite. Mein Schwester gegangen rechts und ich geh nach die Schwester."
Comics gegen das Vergessen
Avitall stützt ihre Großtante, langsam gehen die beiden Frauen und die Familien weiter. Alle brauchen viel länger als gedacht, denn Jolly bleibt immer wieder stehen, erzählt eine Geschichte oder betrachtet schweigend eine Baracke, einen ausgestellten Brillen- oder Rasierpinselberg. Ihre Ausdauer ist bewundernswert. Doch bei Gaskammer und Krematorium versagt Jollys Kraft. Sie schafft es nur in den Vorraum, bleibt dort lange starr stehen. Wieder draußen, entzündet die alte Frau schweigend eine Kerze, spricht ihr Sohn ein Gebet, singt Avitall.
Trotz der großen Kälte will Jolly anschließend unbedingt noch die Baracke sehen, in der sie und ihre Schwester untergebracht waren. Erst danach fliegen die beiden Familien zurück nach Berlin. Zwei Tage später steht hier ein Konzert im Haus der Wannseekonferenz auf dem Programm, am Montag, dem Holocaust-Gedenktag, abends noch eines im Berliner Dom. An diesem Tag schaltet Avitall auf ihrer Homepage auch einen Blog mit Comiczeichnungen von Tobi Dahmen frei. Der Comic beginnt mit der realen Geschichte von Rozsika. Jugendliche sollen sich dann weiter ausdenken, wie das Leben des Mädchens hätte verlaufen können, wenn es den Holocaust nicht gegeben hätte. Das zumindest hofft Avitall.
"Über Rozsika gibt es ganz wenig, es gibt kaum Fotos, meine Großtante Jolly konnte mir nur ein Foto zeigen. Also dieses Leben wurde komplett ausgelöscht, es ist kaum was da. Und so habe ich mir gewünscht, doch noch mehr Illustrationen über sie auch zu sehen. Und habe eine gute Illustratorin gesucht, die sie malen könnte, also nach Jollys Beschreibung."
Inbal Leitner aus Israel ist diese Illustratorin. Derzeit arbeitet sie noch an den Bildern, den Text für das Kinderbuch "Hanna und Rozsika" hat Avitall schon fertig. Das Besondere an dem Buch: Es wird neben der Familiengeschichte ganz beiläufig auch viel über jüdische Gebräuche erzählen:
"Jeden Freitagabend saßen die Familien zusammen, zündeten Kerzen und aßen ein leckeres Abendessen, das Rozsikas Mutter Helga stundenlang vorher zubereitet hatte. Die Challa, der traditionelle Mohnzopf, den man zu Sabbat isst, wurde jede Woche von ihr frisch gebacken. Hanna schmeckte die Challa am besten, die bei der koscheren Bäckerei Schlommi angeboten wurde. Sie war sehr reichhaltig, wahrscheinlich mit Butter gemacht, und so weich, dass sie auf der Zunge zerging. Helga backte lieber selber. Sie traute dem koscheren Bäcker nicht."
Kinderbuch, Blog, Reise, Konzerte, Anstecknadel, Namensbändchen - was auf den ersten Blick wie ein wildes Durcheinander an Ideen wirkt, ist von Avitall sehr wohl beabsichtigt:
"Also ich finde es wichtig, unterschiedliche Menschen anzusprechen und deswegen diese ganz unterschiedlichen Ebenen. Jeder soll sich wiederfinden in diesem Projekt, und deswegen auch diese unterschiedlichen Begegnungen mit diesem Thema."
Für ihr Projekt konnte Avitall die Amadeu-Antonio-Stiftung und den Zentralrat der Juden als Unterstützer gewinnen, außerdem Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau als Schirmherrin. Die Kantorin hofft, dass " we will call out your name" keine einmalige Sache bleibt, sondern in Zukunft weiter geht. Um alles zu finanzieren, verkauft sie deshalb so genannte Remembrance-Boxen mit ihrer eigenen Musik darin.
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