Holocaust-Gedenken

Rhetorischer Kitsch verbietet sich

Rote Rosen liegen am 27.01.2015 auf einem Stein des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Am 27.1.1945 befreite die Sowjetarmee das NS-Vernichtungslager Auschwitz.
Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus liegen rote Rosen auf einem Stein des Holocaust-Mahnmals in Berlin. © picture-alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Marko Martin · 26.01.2018
Marko Martin befürchtet, dass am Tag des Gedenkens an die NS-Opfer manch offizielle Rede erneut aus gedankenlosen Textbausteinen zusammengesetzt sein wird. Er empfiehlt Primo Levis Auschwitz-Bericht zur Lektüre – um Worthülsen zu vermeiden.
Eine der in Deutschland beliebtesten Worthülsen ist jene von der "Erinnerung an die Vergangenheit", die "wachgehalten werden" müsse. Dass solche Aufforderungen denkbar vage sind und einschläfernd wirken, wird dabei billigend in Kauf genommen: Es zählt vor allem die rhetorische Geste - um nicht zu sagen, Pose.
Es steht zu befürchten, dass morgen, am 27. Januar - seit 1996 Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus - manch offizielle Rede erneut aus solchen Textbausteinen zusammengesetzt sein wird. Es sind Sentenzen, die längst ihre Widerhaken verloren haben, so wie zum Beispiel die von: George de Santayanas "Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen" oder auch William Faulkners "Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen".

Zeugnisse gedanklicher Nachlässigkeit

Ist den wohlbestallten Gedenkrednern - bzw. ihren Wikipedia-sozialisierten Redenschreibern - bewusst, von welch gedanklicher Nachlässigkeit dieses Plappern zeugt, ja mehr noch: Wie es die Opfer von damals verhöhnt und uns Zeitgenossen für dumm verkauft? Denn gerade die nationalsozialistischen Massenmorde, deren Spur sich durch ganz Europa zieht und die das Ziel hatten, Menschen auf ewig zu anonymisieren, schreien nach Individualisierung.
Freilich lauert auch hier ein folgenreiches Missverständnis, die Falle des sentimentalischen Kitschs. Ein bisschen Anne Frank, ein bisschen Klezmer, ein paar (zweifellos ehrlich) vergossene Tränen. Gegen eine solch emotionalisierende Entlastungsstrategie aber hatte bereits vor Jahren Claude Lanzmann, Regisseur der epochalen Dokumentation "Shoah", vehement Einspruch erhoben: "Ihr sollt nicht weinen", lautete sein Diktum, ein Plädoyer für genaues Hinsehen. Denn sowohl der redselige Routinier wie auch der angesichts des Schreckens lediglich Klagende verfehlen das Entscheidende.

Primo Levi brachte es auf den Punkt

Was aber wäre "die entscheidende Lehre", die - wenn überhaupt möglich - zu ziehen ist? In nahezu allen Zeitzeugen-Berichten von damals findet sich die Vokabel "kippen". Stimmungen, die plötzlich kippen und sich gegen Minderheiten und Einzelne richten, zuvor stabil scheinende Gesellschaften, die kippen. Es ist die Erfahrung des stets lauernden Zivilisationsbruchs, die es zu bewahren gilt, denn sie schützt vor dem bequemen Köhler-Glauben, alle Schrecken lägen bereits hinter uns.

Der ehemalige Auschwitz-Häftling Primo Levi brachte es ganz lapidar auf den Punkt: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben. Es kann geschehen, überall. Weder kann ich noch will ich behaupten, dass es geschehen wird."
Der italienische Schriftsteller Primo Levi (1919 - 1987), geschätzt im Jahr 1980
Der italienische Schriftsteller Primo Levi (1919 - 1987) war Häftling in Auschwitz.© imago/Leemage
Der gegenwärtige deutsche Blick - zumindest was die kommentierende Klasse betrifft - ist jedoch ein anderer. Vorgestanzte Reflexionen zwischen KZ-Sakralisierung und unfruchtbaren Grübeleien über "die Probleme heutiger Vermittelbarkeit". Dabei ist zumindest das vermeintliche "Problem der Vermittelbarkeit" in Wirklichkeit gar keines: Jeder, der Primo Levis schnörkellosen Auschwitz-Bericht "Ist das ein Mensch?" wirklich gelesen hat, wird ab da ein erkenntnisförderndes Erschrecken spüren, das konkret genug ist, um danach nicht in pseudo-kritisches Geschwätz zu flüchten.

Empathie nicht mit Sentimentalität verwechseln

Die entscheidenden Bücher sind nämlich bereits geschrieben. Es braucht lediglich immer wieder Leser, die Empathie nicht mit Sentimentalität verwechseln, Gegenwarts-Wachsamkeit nicht mit Untergangs-Rhetorik. "Das Fundament", hatte der kürzlich verstorbene israelische Romancier Aharon Appelfeld gesagt, "das Fundament unseres Zusammenlebens ist immer in Gefahr, und die Menschen sind schwach. Doch nur ein Mensch, der sich seiner Schwächen bewusst, kann sie manchmal überwinden."

Marko Martin lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Er war Stadtschreiber der Europäischen Kulturhauptstadt Breslau/Wroclaw. Jüngste Buchveröffentlichung: "Umsteigen in Babylon. Erzählungen", zahlreiche Beiträge für Deutschlandfunk Kultur.

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