Holocaust

Aus Schweigen, Lücken und Vergessen

Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.
Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. © picture alliance / dpa / CTK / Tesinsky David
Von Arno Orzessek · 02.06.2014
Marcel Cohen, Sohn sephardischer Juden, macht die Leerstellen fühlbar, die der Genozid aufgerissen hat. Sein Buch ist ein würdiges, unspektakulär-formvollendetes Buch, mit dem er die Toten ehrt, ohne sie zu verklären.
Marcel Cohens "Raum der Erinnerung" ist ein kühnes, scheinbar paradoxes Unterfangen. Der 1937 geborene Sohn sephardischer Juden behauptet im Vorwort, das Buch sei mehr noch als aus Erinnerungen "aus Schweigen, aus Lücken, aus Vergessen" gemacht. Das klingt handwerklich unmöglich und intellektuell überkandidelt.Doch es stimmt – nicht zuletzt, weil sich Cohen naturgemäß nur undeutlich an jene Menschen erinnern kann, die im August 1943 aus der Pariser Familienwohnung gezerrt wurden: Mutter Marie, Vater Jacques, Schwester Monique, die Großeltern, weitere Verwandte und eine angeheiratete Tante (die als einzige aus Auschwitz wiederkehrte). Der Fünfjährige kam gerade mit dem Kindermädchen Annette vom Spaziergang zurück.Eine Concierge hinderte ihn daran, zu den Eltern zu laufen – und in sein Verderben. Auch so war es das Ende der Welt, die er gekannt hatte. Der kleine Marcel überstand die Nazi-Besatzung mit Annette in der Bretagne.Den Judenstern auf ihrer linken Brustseite verdecktDie kursiv gesetzten konkreten Erinnerungen Cohens beanspruchen kaum die Hälfte der 160 Seiten. Er erinnert sich etwa, dass seine Mutter ihn auf der Straße stets an die rechte Hand nahm, weil sie in der linken Hand Buch und Handschuhe hielt – um den Judenstern auf ihrer linken Brustseite zu verdecken. Er erinnert sich an den Geruch von Maries Handtasche und überhaupt an viele Gerüche; an das Lob, das sein Vater der Suppe zollte, noch bevor er sie probiert hatte ("gut, aber heiß"); an seine eigenen Wutausbrüche, wenn er Porree essen musste.Cohen ordnet die Erinnerungsfetzen einzelnen Verwandten zu. Dazwischen notiert er die Tatsachen, die er recherchiert hat. Und er untersucht Dinge, die übrig geblieben sind – nicht zuletzt die Geige seines Vaters Jacques.Cohen ließ zwei Fotos von Musikexperten prüfen: Offenbar war Jacques ein guter Geigenspieler gewesen. Er dürfte das letzte Mal auf der Rampe von Birkenau Geigenmusik gehört haben. Dort spielte das Frauenorchester unter Esther Béjaro, damit die Ankömmlinge ruhig in die Gaskammer gingen. Von Cohens Schwester blieb nur ein Armkettchen in Paris zurück – mit der Gravur "Monique. 14.5.1943".Wie Jacques' Geige bildet Cohen sie (und anderes) unter "Dokumente" ab. Die letzte Tatsache aus Moniques Lebens lautet: "Transport Nr. 63 vom 17. Dezember 1943". Sie verschwand mit sieben Monaten.Holocaust als absolutes Faktum stets präsentDie Relikte und Erinnerungsfetzen ergeben keine konsistente Erzählung – natürlich nicht. Trotzdem weisen sie über sich hinaus. Obwohl vom Holocaust selten die Rede ist, ist er als absolutes Faktum stets präsent. Cohen macht die Leerstellen fühlbar, die der Genozid (nicht nur) in seiner Biografie aufgerissen hat.Inmitten der disparaten Einzelheiten wird das Verschwundene als Verschwundenes sichtbar. So ist "Raum der Erinnerung" ein würdiges, unspektakulär-formvollendetes Buch, mit dem Cohen die Toten ehrt, ohne sie zu verklären. Außerdem ist es eine kleine Studie über das Erinnern selbst.Cohen hat Recht: Hätte er dem Verdacht nachgegeben, sein Material sei zu dürftig und die Persönlichkeit der Toten in seiner Erinnerung "zu wenig 'originell'" für ein solches Buch, hätte das "den geschehenen Ungeheuerlichkeiten ein weiteres Unrecht hinzugefügt".

Marcel Cohen: "Raum der Erinnerung. Tatsachen"
Aus dem Französischen von Richard Gross, mit zahlreichen Fotos
Edition Tiamat, Berlin 2014
160 Seiten, 16 Euro

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