Von der Bundesliga in den Supermarkt
Der Aufschrei war groß, als Kult-Trainer Holger Stanislawski letzten Sommer verkündete: Künftig leite ich keine Mannschaft mehr, sondern einen Supermarkt! Nach St. Pauli, Hoffenheim und Köln nun also Hamburg-Winterhude. Doch wie einfach ist es, loszulassen? Ein Besuch.
Einfach aussteigen aus alten Strukturen, aus dem Beruf und den Gewohnheiten, die der Job mit sich gebracht hat – das wollen und das schaffen am Ende nur wenige. Vor allem dann, wenn es mit der Karriere bislang gut gelaufen ist, tun wir uns schwer damit, etwas Neues zu wagen, uns neuen Herausforderungen zu stellen. Einer, der ausgestiegen ist, ist der einstige Profi-Fußballer und spätere Trainer des FC St. Pauli, Holger Stanilawski. Nach dem Hamburger Club trainierte er die TSG Hoffenheim und den 1. FC Köln und entschied sich dann für einen Neuanfang: als Leiter eines Supermarkts in Hamburg-Winterhude. Axel Schröder hat ihn für uns getroffen und gefragt, was ihn daran reizt und ob sie nicht immer da ist, die Sehnsucht, zurückzukehren ins Stadion.
Holger Stanislawski ist ehrlich: Wenn er am Samstagnachmittag vier Scheiben Tilsiter verkaufe, sei das Glücksgefühl ein anderes, als in der 93. Minute das Siegtor für seine Mannschaft zu schießen. Und doch bereut er nicht den Wechsel voim
Gänsehaut und Adrenalin - fast zwei Jahrzehnte lang gehörte das für Holger Stanislawski zum Arbeitsalltag. Die Stimmung kurz vor dem Spielbeginn bei seinem FC St. Pauli hat er eingetauscht gegen das Hintergrundrauschen eines Supermarkts. Aber immerhin, so der einstige Profi-Spieler und St. Pauli-Trainer, hat sein Supermarkt einen Bolzplatz:
"Wir haben ein kleines Fußballstadion von 80 Quadratmetern insgesamt. Mit Tribünen, wo, wenn dann auch Schulschluss ist die ersten Kiddies kommen und spielen ein bisschen Fußball. Trinken hier ihre Cola. Es ist einfach so gedacht, dass eben auch Familien hier auch einkaufen gehen können, dass ein Elternteil hier sich vielleicht ein bisschen hinsetzt und das Kind ein bisschen spielen kann…"
… und die Eltern können dann in Ruhe shoppen oder dem Nachwuchs beim Kicken zuschauen. Holger Stanislawski macht einen entspannten Eindruck. Mit fast kahlrasiertem Schädel und Fünftage-Bart lehnt er sich in einem der schwarzen Ledersessel in der Ruhe-Lounge seines Supermarkts zurück.
Der Aufschrei über "Stanis" Jobwechsel hat sich gelegt
Den betreibt allerdings nicht allein, sondern – wenn schon, denn schon – mit einem Ex-Profi vom Hamburger Sportverein, mit Alexander Laas. – Aber kann es das wirklich sein?
Ein Wechsel von der Trainerbank in den Supermarkt? Der Aufschrei, erzählt Holger Stanislawski, war groß, viele schüttelten ungläubig die Köpfe, als er und sein Kompagnon im letzten Sommer die Pläne bekannt gegeben hatten:
"Mittlerweile haben wir eine ganz andere Wirkung auf die Leute. Dass sogar ehemalige Profis hier vorbei kommen und machen sich schlau, wie wir das eigentlich alles gemacht haben und finden diese ganze Sache spannend und es ist im Moment eher so, dass es sehr, sehr positiv aufgenommen wird und nicht belächelt wird."
Dafür ist der Supermarkt in einem alten, umgebauten Straßenbahn-Depot, mit seiner hohen Decke auch viel zu groß. Und einen Laden dieser Größe zu managen, musste der Ex-Trainer in speziellen Schulungen erst einmal lernen.
Parallelen zwischen Mannschaft und Marktpersonal
Aber einige seiner alten Qualitäten kann er trotzdem gebrauchen, erzählt er:
"Verschiedenste Probleme, die wir hier im Markt haben mit dem Personal gibt es auch in einer Mannschaft! Jeder will und muss auch ein bisschen anders angesprochen werden. Der eine braucht mal eine klare Ansage, beim nächsten muss mal ein ganz ruhiges Gespräch unter vier Augen haben. Das ist hier genauso wie es Fußball auch ist. Es treffen immer verschiedene Charaktere zusammen. Und die muss man eben führen."
Und genau das hat er beim FC St. Pauli gelernt. Viel weniger zu tun als in seiner Trainer-Zeit hat Holger Stanislawski auch heute nicht. Das bisschen Freizeit, das er hinzugewonnen hat, verbringt er im Kino, erzählt Stanislawski. Eine Popcorn-Tüte im Schoss, weggebeamt aus dem Alltag.
"Glücksgefühl bei Käseverkauf anders als bei Torjubel"
Aber vermisst er nicht das Toben der Fans auf den Rängen, den gebannten Blick aufs Spielfeld, das Anfeuern der eigenen Mannschaft? Oder, als aktiver Spieler, das entscheidende Tor zu schießen?
"Es gibt nichts Vergleichbares als in der 93. Minute das Siegtor zu schießen! Und 50.000 Menschen im Stadion jubeln. Und man rennt über’n Platz und ist mal so 30 Sekunden völlig frei. Man nimmt nichts mehr wahr. – Das ist jetzt hier nicht so, wenn wir am Samstag vier Scheiben Tilsiter mehr verkaufen, dann renne ich hier nicht jubelnd durch den Markt und mache die Polonaise! Das fehlt dann manchmal schon, wenn man es 20 Jahre gemacht hat…"
… aber wer weiß. Vielleicht macht er irgendwann einmal wieder einen Abstecher in diese Welt.
Anfragen, die seine Trainer-Karriere verlängert hätten, gab es genug, erzählt Holger Stanislawski: der 1. FC Nürnberg, Fortuna Düsseldorf, Al-Ahly Kairo oder St. Gallen. Aber der Verein, bei dem er noch mal schwach werden würde, der war noch nicht dabei:
"Es muss mich wirklich packen und ich muss wirklich das Gefühl haben: ja, dafür lohnt es sich vielleicht doch noch mal, ein Jahr, zwei Jährchen hier das ein bisschen ruhen zu lassen und nachher wieder mit einzusteigen."
Denn mittlerweile ist ihm auch die Belegschaft ans Herz gewachsen. Holger Stanislawski fühlt sich verantwortlich für seine Leute, für sein Team, für deren Familien. Hinter ihm schiebt eine seiner Angestellten einen Rollwagen zum Kühlregal, vollbepackt mit Bio-Milch. Die Palette an Bio- und veganen Produkten wächst. Dauernd kommt etwas dazu im Sortiment. Früher war Holger Stanilawski auf der Suche nach jungen Talenten, heute hält er die Augen auf nach zuverlässigen Lieferanten und neuen Produkten.