Hofsänger und Nacktschnecken

Von Reinhard Mohr |
Opportunismus, Feigheit und der Hang, sich der jeweiligen Mehrheit anzuschließen, gehören seit je zur menschlichen Grundausstattung. Wer sich an sprachliche Vorgaben hält, bewegt sich traumhaft sicher zwischen all den Menschen mit Migrationshintergrund, lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die ja immer auch Wählerinnen und Wähler sind.
Da werden schon mal "strukturelle Defizite" ausgemacht, aber auch "bildungsferne Schichten" haben einen Anspruch darauf, gleichberechtigt am "gesellschaftlichen Diskurs" teilzunehmen, der von der "Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe" lebt. Klare Sache: Niemand wird "ausgegrenzt", "Integration" ist Konsens, der Islam ist so deutsch wie Döner und Currywurst, und alles wird gut. Irgendwie jedenfalls.

Probleme entstehen in dieser geschlossenen Welt der guten Absichten nur dann, wenn ein Störenfried auftaucht. Einer, der die goldenen Regeln des brüderlichen Miteinanders missachtet. Ein Verbalrabauke wie Thilo Sarrazin etwa. Keine Angst, wir führen diese Debatte hier nicht weiter.

Aber wir blicken auf die medialen Reaktionsmuster, die sich epidemisch ausbreiten. Wie auf ein unsichtbares Kommando bewegt sich das Medienrudel mal in diese, mal in jene Richtung. Im Handumdrehen geht es da um Sein oder Nichtsein, um Gut gegen Böse. O Satan weiche!

Ebenso gut dotierte wie perfekt gefönte Fernsehleute benennen schnell die "Störenfriede", die "Extremisten", die "Hass" schüren, die den "Konsens der Demokraten zerstören" und sich "außerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" bewegen. Es waren dieselben Protagonisten, die im Gespräch mit Spitzenpolitikern stets wie beamtete Schoßhunde agieren, die man zum Jagen, pardon: zum kritischen Nachfragen tragen muss. Einerseits ist man aseptisch lau und devot bis zur Schmerzgrenze, andererseits wird laut gebellt, wenn die Gesinnungs-Etikette in Gefahr scheint – und damit die eigene Existenzgrundlage.

"Ihr Text musste leider noch ein bisschen gestreamlined werden" – derart sachdienliche Hinweise an Autoren sind längst Arbeitswirklichkeit in Zeitungsredaktionen. Man spürt die Angst im Nacken, etwas falsch zu machen: Bloß nicht den allgemeinen Meinungsstrom verlassen. Der FAZ-Redakteur Volker Zastrow nennt das "Gedankensharing", das Programm der "Nacktschnecken", die "auf der eigenen Schleimspur Karriere machen, nach oben, ganz oben". Hier tummeln sich auch die "Meinungszüchtiger, die Mönchskrieger der öffentlichen Sprach- und Denkwirtschaft". Und, logisch: "Im Milieu der Schnecken sind Säure und Seife nicht artgerecht, was ätzt oder klärt, wirkt schleimlösend."

Deutschland hat kein wirkliches Verhältnis zur Freiheit, sagt Zastrow zu Recht. "Wir lieben es nicht, das offene Wort, den Freimut, die Ehrlichkeit. Nicht privat und öffentlich erst recht nicht. Da gilt Null Toleranz. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, aber bitte ph-neutral."

Ähnliches ist auch der Publizistin Thea Dorn aufgefallen, die jüngst in der "Zeit" schrieb: "Wir haben eine ostdeutsche Kanzlerin, einen Außenminister, der soeben seinen Lebensgefährten geheiratet hat, einen jugendlichen Gesundheitsminister vietnamesischer Herkunft, einen Bundespräsidenten mit 'Patchworkfamilie': Noch nie war das Personal, das unseren politisch-öffentlichen Diskurs bestimmt, 'bunter' als heute. Und noch nie wirkte es so farblos, gehemmt und uniform."

Als "mutig" gilt schon, wenn man Allgemeinplätze aneinanderreiht, in denen "der Islam" und "die Muslime" nur oft genug vorkommen. Die Debatte darüber, was genau damit gemeint ist, wird dann wieder mal in die Leserbriefspalten verschoben.

Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u.a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z" und "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern".