Hoffnungslos auf der Lesebühne

Von Gerd Brendel |
Zum Theatertreffen gehört nicht nur die Leistungs-Schau der besten deutschsprachigen Theaterproduktionen, sondern auch der Stückemarkt. Aus über 300 Stücken hat die Jury fünf Stücke für eine szenische Lesung ausgewählt.
Große Bühne, kleine Bühne - dazwischen liegt der Stückemarkt mit fünf szenischen Lesungen. "Szenische Lesung" das klingt nach abgelesenen Texten und sterbenslangweilig. Weit gefehlt. Mit viel Einfallsreichtum und sparsamen Mitteln wurden die Theatertexte präsentiert. Eine Wohltat nach den perfekten Bühnenapparaten der Theatertreffen-Inszenierungen. "Brachland" zum Beispiel von Dimitrij Gawrisch.

In dem Stück über den verzweifelten Versuch zweier Brüder vom östlichen Rand der "Festung Europa" endlich in dessen reiches Zentrum vorzudringen spielen die Schauspieler wortwörtlich DRAUßEN, vor der Fensterfront der Kassenhalle. Dass sie dabei den Text vom Teleprompter ablesen, beeinträchtigt die Wirkung kaum.

"Was ich mit dem Stück wollte, war die Migration ins Private zu verlagern, nämlich auch in die Familie, denn die Familie betrifft es am meisten, Familien werden auseinander gerissen, neue Familien entstehen."

In "Brachland" übersetzt Gawrisch das große Globalisierungsdrama in den intimen Rahmen einer Dreiecks-Konstellation zwischen den Brüdern Iwan, Oleg und der Ärztin Petra, die die beiden illegalen Flüchtlinge bei sich aufnimmt. Von allen vorgestellten Stücken bietet "Brachland" am meisten Tragik im klassischen Sinne: Die Beziehung der zwei Brüder, die Beziehung des jüngeren zu Petra, das alles entwickelt der Autor zu einem komplexen Handlungskonflikt, wo keiner ohne Schuld bleibt.

"Zum Bespiel die ganze Prostitutionsgeschichte. Es geht um Männer, die gezwungen sind, sich zu verkaufen, am Ende des Stücks körperlich, vorher moralisch und seelisch."

Gawrisch weiß wovon er schreibt:

"Ich komme vielerlei Hinsicht von woanders her, ich komme aus der Ukraine , ich komme aus der Schweiz und ich bin ein ausgebildeter Wirtschaftswissenschaftler."

Trotz lukrativer Stellenangebote nach dem Wirtschaftsstudium beschloss der Sohn eines ukrainischen Diplomaten, zu schreiben, statt Bilanzen zu erstellen.

"Ich geh mit Sicherheit davon aus, dass hier etwas nicht stimmt."

Dass mit dieser Welt etwas nicht stimmt, diese Erkenntnis zieht sich als roter Faden durch alle ausgewählten Stücke. In dem Stück des Berliners Juri Sternburg "Der Penner ist jetzt schon wieder woanders" - Entschuldigung- wie bitte? - "Der Penner ist jetzt schon wieder woanders" - erleben das die Freunde Igor und Andrey, auch sie Gestrandete auf dem Bodensatz des reichen Europas. Allerdings entscheiden sich die beiden zum Handeln und hinterlassen auf ihrem Weg zu ihrem Dealer "dem Penner" durch die Berliner U-Bahn eine Spur der Gewalt. Selbst als Gott, verkleidet als Harry Rowohlt-Type von seinem Platz im Publikum aufsteht und zur Lesebühne schlurft, beeindruckt sie das nur ein paar Zeilen lang.

"Bist Du es? JA! Weil ihr mich sehen wolltet. Ich bin verpflichtet vor jedem fünften Mord mit Euch Rücksprache zu halten, bin nur hier Euch zu fragen, wie lange Ihr das noch treiben wollt?"

Ziemlich genau sechzig Minuten. Die Länge, auf die alle Stücke gekürzt werden. Das sorgt bei Sternburg nach 59 Minuten dafür, dass die zwei Hauptfiguren verdutzt inne halten, als sie merken, dass sie selbst Gott auf dem Gewissen haben. Das Stück reiht Szenen aneinander wie Spielsequenzen aus einem Ego-Shooter-Computerspiel. Ein durchkomponiertes Drama liest sich anders. Die Helden treten auf der Stelle, auch wenn sie dauernd unterwegs sind. Auch das ist typisch für die meisten Texte auf dem Stückemarkt: Zustandsbeschreibung einer Welt, in der nichts mehr stimmt, statt Aufbegehren dagegen.

In Konradin Kunzes "Foreign Angst" ist die Hauptperson ein junger Mann, 25, aus einem westlichen Land, angehender Journalist, weit gereist um "ungefähr heute" in einem "ehemaligen Hotel in einer kleinen Stadt in einem Kriegsgebiet", das der Autor nicht näher bezeichnet, ein Kriegsverbrechen zu recherchieren. Aber nach 60 Minuten hat er das Hotel kein einziges Mal verlassen.

"Es passiert ja nicht viel, Vieles bleibt im Ungewissen.. für den jungen Mann und das Publikum, er ist hinterher nicht klüger er bleibt im Ungewissen."

Gewiss ist nur eins: Die Autoren des Stückemarkts halten dem Publikum einen hässlichen Spiegel vor: Die Welt ist düster. Auch in den beiden anderen Stücken "Der Bürgermeister" und "Alles Gold was glänzt" von Mario Salazar, eine bitterböse Familiengeschichte aus der Zukunft.

Egal, wer am Ende als ersten Preis eine Inszenierung seines Stücks an einem Staatstheater gewinnt: Das Publikum erwartet garantiert kein Kasperle-Theater. Zu Lachen wird es in der Premiere nichts haben, dafür wird es eine Menge über sich und die Welt, in der wir leben, erfahren. Was kann man mehr von zeitgenössischem Theater erwarten?


Website Berliner Theatertreffen 2011
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