Hoffen auf den progressiven Islam

Nach Ansicht der Publizistin Hildegard Becker müssen die progressiven Tendenzen im Islam stärker gefördert werden. Der Koran müsse neu interpretiert werden, um den Islam "lebenswert" und "lebbar" zu machen, betonte Becker.
Herbert A. Gornik: Hildegard Becker ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur, in der Sendung "Religionen". Sie waren lange Jahre Redakteurin für Religion und Kirche im Westdeutschen Rundfunk in Köln, sind Expertin für den Islam in Deutschland, eine leidenschaftliche dazu, denn Sie haben ein paar Kriterien, die manchmal zu harschen Urteilen führen. Wonach bemessen Sie denn islamisches Leben hierzulande?

Hildegard Becker: Ich muss erst mal sagen, das harsche Urteil möchte ich mal etwas kommentieren. Ich nehme an, Sie meinen, wenn ich etwas dezidiert weiß und das dann von mir gebe und auch kommentiere, dass das dann harsch ist. Ich bin der Meinung, dass das eher der Versuch ist, ein sachgerechtes Urteil über den tatsächlich existierenden Islam zu finden.

Gornik: Na ja, es gibt islamische Gesprächspartner, die bei der Namensnennung Hildegard Becker schon einige Flecken im Gesicht bekommen.

Becker: Ist mir klar. Es ist nur so, dass sie mir auch nicht sehr viel zu entgegnen haben, wenn ich mit ihnen ins Gespräch komme.

Gornik: Was sind Ihre Kriterien, wonach bemessen Sie islamisches Leben hier?

Becker: Danach, dass Muslime versuchen, ihre Religion als Religion hier zu leben, so wie Christen versuchen, ihr Christentum hier zu leben. Dieses ist aber nicht ganz so einfach im Islam, denn der Islam ist – wie man ja schon weiß – nicht eine strukturierte Religion, das heißt, sie haben keine Hierarchie wie die Kirchen und sie haben auch kein oberstes Lehramt, das ihnen sagt, so oder so muss man das oder das glauben, das gibt es nicht.

Gornik: Ja, aber das muss doch nichts Negatives sein.

Becker: Das muss gar nichts Negatives sein, und die Muslime, die Wert darauf legen, die betonen das auch, dass sie selbstständig denken wollen, nur, es ist natürlich so: Eigentlich gibt es im Islam keinen Mittler, keinen Klerus, aber das ist Illusion. In der Praxis gibt es die natürlich sehr wohl, weil viele Leute – insbesondere Rechtsgelehrte – immer wieder versuchen, ihre Macht einzusetzen und durchzusetzen. Und da es sehr unterschiedliche Gruppierungen gibt, auch Verbände in Deutschland zum Beispiel, gibt es natürlich auch unterschiedliche Interessen und auch unterschiedliche Versuche, ihre Ellenbogen zu gebrauchen.

Gornik: Heißt das, Hildegard Becker, Sie leiden auch etwas darunter, dass Sie manchmal gar keinen richtigen Ansprechpartner haben, den man verantwortlich machen kann für das, was gerade im Islam läuft?

Becker: Ja, das geht ja nicht nur mir so, das geht ja auch der Politik in Deutschland so, und das zeigt ja zum Beispiel auch die Islamkonferenz von Bundesinnenminister Schäuble, der ja versucht, die Muslime irgendwie unter einen Hut zu bringen, um endlich mal den sogenannten Ansprechpartner zu haben, mit dem man dann politische Dinge verhandeln kann, so wie man das mit den Kirchen tut. Nur, es ist sehr schwierig, wie es sich gezeigt hat, denn, ich meine, die Muslime, die in Verbänden organisiert sind, sind eben nur ein kleiner Teil der Gesamtzahl der Muslime, und es wird dann natürlich entgegnet von denen, die nicht dazugehören wollen – was die Mehrheit ist – wird entgegnet, dass sie nicht von diesen Verbänden vertreten werden wollen. Und das muss natürlich eine Politik, die neutral bleiben muss, berücksichtigen.

Gornik: Ist es aber nicht auch so, dass viele Probleme, die in der Öffentlichkeit hoch verhandelt werden, emotional stark besetzt sind – Schandmorde, um nicht zu sagen, Ehrenmorde, die Gewaltproblematik, das verächtliche Verhältnis, was viele junge Leute gegenüber Frauen haben –, das sind doch gar keine religiösen Probleme eigentlich. Das sind doch Bildungsprobleme, die mit der Religion des Islam in erster Linie ganz wenig zu tun haben, wohl aber mit den gravierenden Bildungsdefiziten.

Becker: Das sehe ich ähnlich, obwohl man bei diesen Vorkommnissen, die so schrecklich sind, – Ehrenmorde, wie man ja fälschlicherweise sagt –, immer auch berücksichtigen muss, dass die Religion beziehungsweise die Religionsvertreter dabei insofern eine Rolle spielen – Pfarrer in der katholischen oder evangelischen Kirche tun ja das ähnlich wie Imame oder Muftis im Islam –, dass sie raten, dass sie den Menschen sagen, was sie darüber denken. Und da es zum Beispiel in Anatolien in der Türkei – unsere Muslime kommen ja zum größten Teil aus der Türkei –, dass da Imame sind, die keine hohe Bildung haben und die selber ihren Islam gar nicht so gut kennen, um sagen zu können: Das gehört nicht zum Islam, das ist unislamisch – was es ja tatsächlich ist, Ehrenmorde sind nicht islamisch! Nur, wenn dann Imame, Muslime hingehen und den einfachen Leuten sagen, das dürft ihr nicht, weil das islamisch ist, obwohl es falsch ist, woran sollen sich die einfachen Leute dann halten? Insofern spielt es immer eine Rolle mit, deswegen ist richtig, dass es nicht islamisch ist, aber es ist falsch zu sagen, es hat mit dem Islam nichts zu tun. Es hat wohl was damit zu tun.

Gornik: Wie und wo, Hildegard Becker, ist eine Lösung dort in Sicht? Sollten solche schlechtgebildeten Imame, die auch noch aus der Türkei finanziert werden, hier überhaupt nicht lehren und ausbilden, müsste die Ausbildung sozusagen den deutschen Pfarrern und Pfarrerinnen und Priestern gleichgestellt werden?

Becker: Ich glaube, das Bildungsproblem ist eines der wichtigsten für die islamische Religion überhaupt, denn es gibt zu wenig, es gibt auch in Deutschland noch zu wenig, es gibt weltweit zuwenig, ich glaube, dass es in anderen Ländern noch viel schlimmer aussieht mit dem Bildungsgrad der einfachen Menschen. Und man versucht ja auch ein bisschen was zu tun, zum Beispiel hat es kürzlich in Berlin eine Tagung gegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, wo sich sogenannte fortschrittliche Muslime aus aller Welt getroffen haben, und die haben genau auch darüber gesprochen unter anderem. Es ist so, dass es sehr wenig Versuche gibt, wirklich Bildung in Gang zu setzen, die einen fortschrittlichen Islam fördert. Fortschrittlich heißt in diesem Sinne, dass man rational denkt, dass man den Koran neu angeht, dass man sozusagen den Islam zu etwas macht, was lebenswert wird, was auch lebbar wird heutzutage, das heißt, der Koran muss neu interpretiert werden, und das hängt alles mit Bildung zusammen. Es gab da zum Beispiel eine Frau aus Amerika, sie kommt ursprünglich aus dem Irak, die hat da etwas ganz Großartiges in Gang gesetzt, so was würde ich mir hier auch wünschen, das nennt sich American Islamic Congress, und dieser Kongress ist eine Bürgerrechtsbewegung, die Toleranz produzieren möchte innerhalb der muslimischen Gemeinschaft. Und sie haben jetzt zum Beispiel etwas gemacht, was sehr wichtig ist, nämlich eine Schulbuchuntersuchung, eine Lehrbuchuntersuchung in Amerika, und haben dabei Grässliches herausgefunden, die Bildungsfrau, sie hat echt gesagt, dass es sich hier um Hasslehre handelt. Sie hat auch Beispiele genannt, es ist eine Ideologie des Hasses, keine Wertschätzung irgendeiner Vielfältigkeit anderer Religionen, Muslime müssen Ungläubige verachten, sie müssen zerstört werden, es ist knallhart. Und diese Untersuchung in Amerika entspricht total einer ganz kürzlich erst stattgefundenen Untersuchung in England, wo eine Gruppe von Think-Tank-Fachleuten ein Jahr lang 100 Moscheen in England durchsucht hat nach Büchern, und diese durchforstet hat, und die sind leider zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen. Das Schlimme ist, dass in der Hauptmoschee von London zum Beispiel – das ist eine saudisch finanzierte Moschee – die schlimmsten Bücher gefunden worden sind.

Gornik: Wir sprechen mit Hildegard Becker über den progressiven Islam und die Hauptprobleme hierzulande in der Sendung "Religionen" im Deutschlandradio Kultur. Hildegard Becker, leben wir dann hier – nach den beschriebenen Zuständen in Amerika und England – noch auf einer Insel der Seeligen, oder sehen Sie diese Probleme auch schon hier?

Becker: Es hat sich in der letzten Zeit herausgestellt, dass es in vielen, ich will nicht sagen, in vielen, aber in einzelnen Moscheen solche Funde auch gegeben hat, also Bücher, die Hassliteratur verbreiten, oder auch zum Beispiel eine bekannt gewordene DVD. Die nennt sich "Saras blaue Augen", das ist ein schlimmes, antisemitisches Machwerk in der Milli-Görisch-Moschee, der Mevlana-Moschee in Berlin, und auch in anderen Milli-Görisch-Moscheen, zur Buchmesse hier ausgelegt und zu anderen Gelegenheiten auch. Es ist nur so: Es gibt in Deutschland keine solche Untersuchung, und ich plädiere schon sehr dafür, dass das hier auch mal gemacht wird, denn wir wissen ja gar nicht, was in den Moscheen alles so vor sich geht.

Gornik: Die Experten des Verfassungsschutzes sagen, in den meisten Moscheen – man spricht von 90 oder 95 Prozent – gebe es diese Probleme eigentlich nicht, da würde gut kooperiert, man wisse auch, was dort passiert. Aber nun haben Sie einen Verband genannt, der offenbar nicht so sehr kooperationsbereit ist, obwohl doch in diesem Verband auch deutschsprachige Muslime das Sagen haben, teilweise sogar Konvertiten anzutreffen sind. Warum sind die nicht progressiv in dem Sinne? Warum hat sich die von Ihnen gezeigte Haltung, die man anderswo, in Amerika, sehen kann, hier nicht durchgesetzt?

Becker: Ich würde niemals sagen, Milli Görisch sei nicht kooperationsbereit. Sie sind sehr kooperationsbereit und sind sehr enttäuscht, dass sie immer noch im Verfassungsbericht stehen. Sie tun alles, um sich ein gutes Image zu verschaffen, meiner Meinung nach ist das aber Kosmetik, das heißt, sie kaschieren eigentlich, was darunter vor sich geht. Und was innerhalb der Moscheen, intern und nach innen hin gelehrt wird, darüber haben wir so gut wie keine Kenntnisse, weil wir ja keine Kontrolle darüber haben. Das ist schon sehr schwierig. Ich würde auch nicht nur auf Milli Görisch schauen, wichtig sind auch zum Beispiel die Muslim-Brüderschaft, die ja hier nicht als Muslim-Brüderschaft organisiert sind, sondern in anderen, unscheinbar klingenden Verbänden sich niedergelassen haben, wie ja auch der Verfassungsschutz zum Beispiel die Islamische Gemeinschaft in Deutschland nennt, die ja wiederum Mitglied des Zentralrats der Muslime ist. Und das macht die Sachen ja auch so kompliziert, weil man ja nicht weiß: Wem kann man eigentlich trauen?

Gornik: Aber was ist aus Ihrer Sicht, Hildegard Becker, zu tun? Nur auf die progressiven Tendenzen im Islam zu hoffen, das ist das eine. Wie können wir die unterstützen und wie können wir mehr wissen, als wir wissen, um dann auch dieses Wissen in freundliche Kritik umzusetzen?

Becker: Erst mal fände ich es gut – um das Beispiel noch mal zu nennen –, eine solche Untersuchung einmal zu machen, was in Moscheen gelehrt wird, denn da gibt es noch sehr viel mehr. Ich könnte da auch noch einiges an Büchern nennen, aber die kennt ja kaum jemand. Wenn jemand in so einen Buchladen geht, ein Deutscher, der kennt weder die Autoren, noch weiß er, was drinsteht. Erziehung ist eine ganz wichtige Frage, was da so alles ausliegt … Schon das bisschen was ich weiß – das ist längst nicht viel –, das reicht mir also schon, das ist wirklich keine fortschrittliche, religiöse Erziehung, und da müsste wirklich einiges passieren. Anstatt immer nur hilflos zu gucken, mit wem man denn jetzt reden kann, sollte man mal konkret was tun auch von Seiten der Politik und der Gesellschaft aus, um solche Untersuchungen zu machen, um da mal ein Stückchen weiterzukommen. Dann weiß man auch ein bisschen mehr, mit wem man es zu tun hat, so weiß man es ja leider in vielen Fällen nicht, weil man nie sicher sein kann: Was ist eigentlich die Agenda, die hinter dem steckt, was sie wörtlich sagen?

Gornik: Was halten Sie von der Forderung, dass zumindest in den Freitagsgebeten in deutschen Moscheen zweisprachig gepredigt wird?

Becker: Das ist praktisch im Augenblick kaum durchführbar, weil die Imame fehlen, die genügend Deutsch sprechen, insbesondere muss man sehen, dass DITIB, also die größte türkisch-abhängige Institution in Deutschland, dass die also die Imame ja bekanntlich schon seit Jahren immer nur für vier bis fünf Jahre nach Deutschland schickt. Inzwischen wird ja versucht, ihnen etwas Deutsch beizubringen, aber das reicht natürlich bei Weitem nicht aus, um dann zu predigen. Das ist der eine Gesichtspunkt. Der andere Gesichtspunkt ist, dass es immer noch sehr viele gerade auch von den älteren Leuten gibt, die kein Deutsch sprechen, und die natürlich, wenn es um ihre Religion geht, in ihrer Muttersprache angesprochen werden wollen. Das sehe ich ohne Weiteres ein. Wo man jetzt ein bisschen drauf hinarbeitet ist, dass, zum Beispiel wenn neue Moscheen gebaut werden, dass dann eine deutsche Übersetzung der Predigten irgendwie vorliegt, im Internet oder sonst wie. Das muss man wahrscheinlich praktisch noch eruieren, aber das ist dann schon mal ein Weg. Und es gibt inzwischen ja auch schon einige deutschsprechende Leute, die auch in den Moscheen dann Deutsch predigen, aber das ist die Minderheit. Die große Zahl – Türken und Araber natürlich auch, oder auch Iraner –, die große Zahl predigt in der Muttersprache, weil es kaum anders geht im Moment, aber man muss darauf hinarbeiten, dass mehr Imame in Deutschland auch regulär an Universitäten ausgebildet werden.

Gornik: Wenn ich Sie richtig verstehe, sind gerade gegen Moscheeneubauten, die großen, ein sehr hoffnungsvolles Zeichen, denn die Muslime kommen dann aus den Hinterhöfen heraus, wovor wir uns eigentlich nicht fürchten müssen, sondern was eigentlich eher wünschenswert ist, denn dann können wir auch mehr reingucken, draufgucken und mit ihnen kommunizieren, oder?

Becker: Das sehe ich ähnlich wie Sie, mit einer Ausnahme: Ich bin nicht so sehr der Meinung, dass es so notwendig ist, riesengroße Moscheen zu bauen, sondern der Bedarf vor Ort geht viel mehr nach mittleren bis kleineren Moscheen, die aber dann ordentlich sind und aus den Hinterhöfen herauskommen. Die großen Moscheen, na ja, Sie wissen, wie die Diskussion zurzeit läuft, es wird ihnen vorgeworfen, dass sie da auch eine gewisse Machtposition mit erreichen wollen. Natürlich brauchen sie die Moscheen, und zum Beispiel ein so großer Verband wie DITIB braucht auch eine vernünftige Zentrale in Köln. Was da jetzt ist, das ist so ein Provisorium, das geht wirklich nicht.

Gornik: Können wir das als Christen nicht gelassen sehen? Auch im christlichen, katholischen, protestantischen Bereich, aber auch im jüdischen Bereich sind Gotteshäuser auch immer als Herrschaftszeichen und als Machtdemonstration gesehen worden.

Becker: Gesehen worden, ja, aber jetzt noch? Das würde ich bezweifeln.

Gornik: Hildegard Becker war das, mit einem Gespräch über den Islam in Deutschland und die progressiven Tendenzen weltweit, herzlichen Dank.