Hört auf zu jammern!

Von Uwe Zimmer |
Der Euro ist stabil auf hohem Niveau, die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt - und dennoch herrscht Krisenstimmung in Deutschland. Sind wir ein Volk von Jammerlappen?
Mein Freund John ist Amerikaner, arbeitet und lebt diesseits und jenseits des Atlantiks und wundert sich gelegentlich über die Deutschen. Beispielsweise wenn sie auf die Frage: "Wie geht es Ihnen?", mit "Ich kann nicht klagen" antworten. Das klingt in Johns US-Ohren, als wenn man bedauere, dass man nichts zu beklagen hat. "Manchmal seid Ihr Deutsche richtige Cry Babies, Jammerlappen."

Zum Jammern geben uns die Nachrichten täglich Gründe genug, die Krisen haben Hochkonjunktur. Zuallererst die Euro-Krise, deren Lösung uns eine Billionen-Schuldenlast auf die Schultern legt. Dann die Europa-Krise, die Wirtschaft und Wohlstand gefährdet. In der Krise stecken die Banken, der Industrie geht es schlecht, die Auftragslage ist mies, der Binnenmarkt schwach.

Die Bundeswehr ist in der Krise, die Hochschulen, die Krankenhäuser sind es auch. Die Zahl der Kirchenaustritte, der Scheidungen nimmt zu. Deutschland wird immer älter und die Frage immer drängender: Wer soll die Renten sichern und für Gesundheit und Pflege bezahlen? Und was sagt John, der Amerikaner, wenn er diese Meldungen hört: "Was seid Ihr Deutschen doch für Jammerlappen."

Und er fragt: "Worüber beklagt ihr Euch? Wie leidet Ihr Deutschen denn unter der Euro-Krise? Sinkt Eure Lebensqualität? Hat die Reiselust abgenommen? Der Euro ist stabil auf hohem Niveau, die deutsche Wirtschaft wächst, das Steueraufkommen steigt, die Arbeitslosigkeit sinkt, dem Gesundheitswesen geht es gut, die Renten sollen demnächst erhöht, die Steuer-Belastung reduziert werden. Seht Euch doch mal um in der Welt und hört auf zu jammern!"

John lenkt den Blick auf sein Heimatland, die USA. Da steigt die Arbeitslosigkeit, die Gesundheitsvorsorge ist mangelhaft, die öffentliche Armut groß, gute Bildung wird immer teurer, die Kosten für die Militär-Einsätze im Irak und Afghanistan wachsen dem Staat über den Kopf und die politische Radikalisierung, vor allem durch die Tea Party auf Seiten der Rechten, vergiftet das Klima.

"Aber", und dies sagt John mit fast vorwurfsvoller Miene, "wir klagen und jammern nicht. Wir versetzen uns nicht selber durch die Häufung von Negativem in Endzeitstimmung. Wir sind vom Optimismus des Machbaren geprägt, vom Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen, und es allen zu zeigen: "Yes, we can!".

Und John verweist auf George McGovern, einst Präsidentschaftskandidat der Demokraten gegen Richard Nixon und heute mit fast 90 Jahren immer noch eine hoch geachtete Stimme der Vernunft. Auch er sieht die aktuelle Situation der Vereinigten Staaten düster, von Krisen gezeichnet, aber von Verzweiflung findet man bei McGovern keine Spur.

Für ihn sind die USA ein großartiges Land, das alle Probleme lösen kann. Die Demokratie sichert Frieden und Freiheit. In der Politik werde man bald zur Ausgewogenheit zurückfinden, denn Radikalität sei kein Wesenszug der Amerikaner, wohl aber Optimismus und Vertrauen in die eigene Stärke. Soweit George McGovern.

"Wo sind", fragt John, "bei Euch solche Mut machenden Vorbilder? Auch Ihr könnt doch stolz sein, auf das, was ihr geschafft habt. Aber kein Elder Statesman, kein ehemaliger Bundespräsident, kein Meinungsführer haut auf den Tisch und sagt: Wir haben so viel erreicht und das, was uns im Augenblick Sorgen macht, das schaffen wir auch. Und deshalb hört auf zu jammern!"

So spricht mein Freund John, "Bei uns gilt die Lebensweisheit," sagt er, "No storm lasts forever, kein Sturm dauert ewig. Würde Angela Merkel," so fügt der Deutschlandkenner schmunzelnd hinzu, "mit 'Kein Sturm dauert ewig' ihre Krisen geplagten Mitbürger zu beruhigen versuchen, hieße es bestimmt später in der Tagesschau: 'Kanzlerin warnt, Windkraft in der Krise'."

Uwe Zimmer, geb. 1944 in Siegen ( Westfalen), studierte Germanistik, Politische Wissenschaften und Philosophie in Frankfurt/Main, München und Marburg. Seine journalistische Laufbahn begann Zimmer 1971 beim Berliner "Tagesspiegel" 1974 wechselte er als Redakteur zum "Spiegel". 1978 wurde Zimmer Bonner Büroleiter des "Stern", war dann Korrespondent in Washington und schließlich Ressortleiter Ausland. 1986 ging Zimmer als stellvertr. Chefredakteur zum Axel Springer Verlag in die Entwicklungsredaktion. Von 1987 bis Oktober 2000 war er Chefredakteur der "Abendzeitung" in München, anschließend bis 2009 Chefredakteur der "Neuen Westfälischen" in Bielefeld. Er wohnt in der Nähe von Augsburg und arbeitet seit seinem Ruhestand als Trauerredner.
Uwe Zimmer
Uwe Zimmer© Andreas Frücht