"Hörn se mir bloß uff damit!"

Von Claus Stephan Rehfeld |
Mit Berlin, so erfahren wir hier von einer Informantin aus dem einschlägigen Gewerbe, mit Berlin hat man kein Verhältnis. Entweder ist man mit der Stadt verheiratet oder auf ewig entzweit. Liebe zur Stadt hält der Einheimische für unlogisch.
Die Stadt ist, dies wurde uns versichert, zweifellos weiblich - aufgetragene Zukunft und abgeschminkte Vergangenheit. Exzentrische Genusssucht und schlichte Gewöhnlichkeit. Sanft und zickig, nervig und verführerisch. Verachtet und umschwärmt, ausgehalten und hochgepäppelt. Die Kerle werden in Kneipen abgegeben.

Politik hat hierorts einen hohen Unterhaltungswert, der Informationsgehalt wird als eher gering eingestuft. Der vorletzte Bürgermeister landete beim Marathon auf Platz 2856 und wurde danach abgewählt, der jetzige versucht auf der Tanzfläche Schritt zu halten. Mit den Immobilienpreisen steigt die Zuversicht, dass man Metropole wird, mit den leer stehenden Büroflächen nimmt die Gewissheit zu, dass es schon so weit sei.

"Achtung, Aufnahme. Klappe. Bitte. "

"Hörn se mir bloß uff damit. Ick hab die Schnauze voll davon. "

Der Berliner ist von eher grundfreundlicher Art. Der Stammesangehörige teilt halt nur ungern sein Glück mit Ausländern. Ausländer ist, wer von außerhalb kommt. "Außerhalb" liegt in Sachsen, Bayern, dem Rheinland und so.

"Hörn se mir bloß uff damit. "

Über Berlin ist manch "geistvolles, aber einseitiges Buch" verfasst worden. Nun, in Berlin kann man schnell mit die Fresse uff die Schnauze fallen. Wir wollen Ihnen helfen.

"Ick hab die Schnauze voll davon. "

Nun ja.

Mit Berlin, so erfahren wir hier von einer Informantin aus dem einschlägigen Gewerbe, mit Berlin hat man kein Verhältnis. Entweder man ist mit der Stadt verheiratet oder auf ewig entzweit. Liebe zur Stadt hält der Einheimische für unlogisch.

Die Stadt ist, dies wurde uns versichert, zweifellos weiblich - aufgetragen und abgeschminkt, sanft und zickig, nervig und verführerisch, verachtet und umschwärmt. Berlin ist also typisch Frau, mithin unbegreiflich.

Fünf Millionen deutsche Frauen befinden sich in den Wechseljahren. Berlin auch. Seit der Wende.

"Lebenslauf, ick erwarte dir" lautet der erste Satz, den ein Berliner sprechen kann. Den Rest seines Lebens ist er mittenmang und damit beschäftigt, Eindruck zu schinden. Kurz vor seinem Abgang stellt er erstaunt fest: Wat´n, det war allet?

Gespräche über Abgründe meidet der Berliner, er mag nicht darin umkommen. Schwierigkeiten weicht er aus, weil "det stand nich in meine Jeburtsurkunde".

Auswärtigen bescheidet der Ureinwohner kurz und knapp: "Mir wird nich imponiert!" Er ist den Ungläubigen zuzurechnen, er weiß alles.

Der Menschenschlag gilt als kompromisslos. Die 1848er Revolution richtete sich hierorts gegen das Rauchverbot auf öffentlichen Straßen. Die Menge vor dem Schloss forderte: "Freiet roochen". Es wurde durchgesetzt.

Der Ruf "Platz da!" findet keinen anderen Widerstand als den natürlichen, da kein Platz ist. Wir fanden die Überlieferung bestätigt.

Die Stadt

Die geographische Lage des Stammesgebietes kann als bekannt vorausgesetzt werden - zwischen Birkenstein und Dallgow, Mühlendorf und Klein-Waßmannsdorf.

Die Insel-Lage des Areals ist historisch überliefert. Als eine Insulanerin gefragt wurde, ob die ganze Insel mit Wasser umgeben sei, war allgemein Heiterkeit angesagt.

Der höchste Berg in Berlin ist der Schuldenberg. Erklommen hat ihn noch keiner.

Die Location definiert der Einheimische als "Leihhaus für Existenzmöglichkeiten".

Ost / West

Berlin - zwei Hälften, ein Ganzes. Eingeborene fahren immer noch nach "Drüben", berichten uns Beobachter der Szene. Sie verweisen auf den Kurzzeitwert des "Damals". Sagt einer in Deutschland "Damals", dann spricht er von vor 45. In Berlin meint "Damals" immer vor 89.

Die Kraft der zwei Kerzen, die dem Trabi zugeschrieben wird, erlitt den Verkehrsinfarkt. Als wir einmal in einem Trabi auf Westberliner Terrain vorstießen, blieb die Rennpappe einfach stehen. Wir verstanden das.
Dafür versicherte uns ein Ostberliner, ick habe den Westen uffjekoft. Das können nicht viele sagen!

Sprache

Die Sprache ist voller Türken, äh, Tücken und kommt dem Speaker gelegentlich wie ein böhmisches Dorf vor. Er fasst sich immer häufiger an die Birne: "in 1945", "an Ostern" - Spass, Spassfaktor - Ligörchen, Tschüßchen!

Der Berliner globt det nich und findet, det is beschissen ärgerlich. Richtet sich solcherlei Rede gegen eine Person, dann ortet das Idiom einen ausjemacht "doofen Trottel".

Der lokale Typhus gilt als ein Meister der Widerspruchs-Dialektik. Auswärtige pflegt es deshalb mit dem Spruch zu begrüßen: "Och keen Berlina, wa!"

Der Dialekt pflegt seine polyglotte Zunge. Vor das Jiddisch hat er keen Bammel nich. Aus dem Polnischen fällt ihm Großkotz und Pennunze sofort ein. Seine Latein-Kenntnisse sind mit Moneten, Palaver, Pulle und intus kolossal famos zu nennen. Das Türksprech wird geschätzt wegen seines enorm "lyrischen Potentials".

Die Schimpfwortforschung ist schon weit voran geschritten. "Schweinepriester" wurde als "leichtes Schimpfwort" eingestuft.

Männer

Die Männer gelten als Tulpenexperten und Lokal-Patrioten. Die größten Erfolge erzielen sie in Bierkneipen. Tulpe oder Nulpe - das ist dort die Frage. Leicht bildet sich weißer Schaum vor dem Mund, kommt die Rede auf das Kneipensterben. Die Fachsimpelei darüber wird oft mit der Bemerkung "Nüchtern betrachtet" eingeleitet. Ist der Schuldige an der Misere ausgemacht, hat man den Kanal "voll bis oben hinne". Den Frauen dienen Männer als Tütenträger oder Kaktushalter.

Frauen

Die Ost-Frau befindet sich seit der Wende im Gebärstreik. Damit passt sie sich der säkulären Nachwuchsbeschränkung im Westteil an. Junge Frauen bevorzugen die demographisch-ökonomische Schrumpfungsspirale - sie hauen ab.

Alice Schwarzer liegt hier rum. Ihre Bücher entsorgt eine Buchhandelskette auf dem Ramschtisch.

Politik

Politik hat hierorts einen hohen Unterhaltungswert, der Informationsgehalt wird als eher gering eingestuft.

Der vorige Bürgermeister landete beim Marathon auf Platz 2856 und wurde danach abgewählt, der jetzige versucht auf der Tanzfläche Schritt zu halten. Den Spitznamen Wowie trägt er, weil er ständig fragt: wo? wie?

Der Titel "Regierender Bürgermeister" wurde verliehen, weil sonst keiner wüsste, was er sonst so macht.

Aus der historischen Insellage der Stadt erklärt sich auch die politische Farbenlehre. In der Schifffahrt markieren schwarze und gelbe Tonnen Untiefen und Wracks. Schwarze und gelbe Parteien werden daher gemieden.

Die schwarze Partei pflegt gerne ritualisierte Beschwörungsformeln. 60 Jahre nach Kriegsende teilt uns ein lokales Blatt mit: "CDU schmeißt Rote Armee raus".

"Kenn ick nich persönlich" sagt der Hiesige, kommt der Feldforscher auf Schröder, Merkel und Wellewester zu sprechen. Die Dame Merkel hält er für die Bundesbeauftragte für Hosenanzüge. Als diese 60 Jahre nach Kriegsende davon sprach, Schröder führe Deutschland "in den Untergang", wurde im Ostteil der Stadt frohgemut die DDR-Hymne angestimmt: Auferstanden aus Ruinen.

Immobilien

Mit den Immobilienpreisen steigt die Zuversicht, dass man Metropole wird, mit den leer stehenden Büroflächen nimmt die Gewissheit zu, dass es schon so weit sei. Momentan ist die Gewissheit sehr groß.

Die Bebauung geschieht planmäßig. Davon zeugt das Bekenntnis eines höheren Beamten. "Wir müssen doch doof sein, hier zu bauen!" erklärte er einer Rotte erregter Kolonisten. Die wollten partout nicht begreifen, dass Beton schöner als Naturgrün ist.

Die gängige Architektur kann als unauffällig bezeichnet werden. Wo früher eine Laube stand, stellen sich nun mindestens zwei Häuser in den Schatten. Ihre Bewohner, meist Zugezogene, behaupten, sie würden jetzt im Grünen wohnen. Der Abstand der Häuser entspricht dem alter Berliner Hinterhöfe.

Ausländerfeindlichkeit

Die Fremdenfeindlichkeit richtet sich hierorts eher gegen Tiere als gegen Zweibeiner. Besonders unbeliebt sind Kampfhunde und Wanzen zum Abhören.

Flächendeckende Unterschriftensammlungen gegen Ausländer - wie bei den bayerischen Langschädeln oder hessischen Babblern - sind bei den berliner Dickschädeln undenkbar.

In Berlin leben viele Ausländer. Türken, Russen, Scheinberliner, Sachsen.

Auswärtige

Betritt ein Sachse die Wohnung eines Berliner, kriegt die "Tapete Jänsehaut". Sächsisch wird an den örtlichen Volkshochschulen nicht gelehrt.

Das Auftreten bayerischer Langschädel findet hierorts freundliche Aufnahme. Als aus der Bayerischen Landesvertretung wieder mal Rauch aufstieg, rückte die lokale Feuerwehr an. Eine Brandrede wurde von den Verursachern ausgeschlossen. Sie würden immer so grillen.

Rheinländer erkennt der Berliner an ihren Pappnasen und Goldketten. Zelebrieren sie Brauchtum wie Karneval, mischt er sich gerne unter die Protestanten. Selten sieht er so viele Narren auf einen Haufen. Sie halten ja auch "Berliner" für Pfannkuchen.

Dass ein Saarländer und ein Sachse die Berliner Mauer errichtet hatten, darüber kommt der Eingeborene nicht hinweg. Nach der Wende wurde die Mauer abgerissen, weil da drauf stand: Ausländer rein, Rheinländer raus. Nun wird der Wiederaufbau erwogen.

Gastronomie

Die hiesige Cousine ist überkommen. Der fidele Verpflegungsteilnehmer schwört auf Bockwurst, Boulette, Rollmops. Lobeshymnen gelten der vom Budiker persönlich "uff Rand jenähten" Pellkartoffel.

Lukullische Extravaganzen der regionalen Küche verheißt der gleichnamige "Schlemmer-Imbiss". Ganz auf Internationalität setzt das "Bistro Ephethos", das zu Türkischer Pizza einlädt.

Die "Trinkgruppe Berlin" des "Vereins für bedrohte Alkoholiker" hat sich den schweren Kampf "gegen die Verflachung der deutschen Trinkkultur" auf die Schaumkrone geschrieben. Die Trinkgruppe erlitt oft einen hochprozentigen "Kulturschock".

Wirtschaft

Die Wertsteigerung kann als beträchtlich bezeichnet werden. Auf dem bekanntesten Trödelmarkt wurden wir Zeuge der rasanten Entwicklung. Ein Herr, der eine sechsbändige Buchausgabe mit dem empörten Ruf "Zu teuer!" von 25 auf 12 Euro runterhandelte, bot sie wenige Minuten und nur 50 Meter weiter für 65 Euro wohlfeil an. Wir fanden das sinnfällig, handelte es sich doch um "Märchen aus Tausendundeine Nacht".

Allenthalben schlägt unbekümmerte Kreativität durch. Da Sparen eine Kunst ist, bestimmen Künstler das Schrittmaß.
Wird andernorts für Puccinis Oper "La Bohème" noch ein großes Orchester rangekarrt, so wird hier die Reduktion der Partitur auf drei Instrumente geboten. Die "musikalische Mängelwirtschaft" ließ einen Kritiker den Text verstehen und daraufhin die "textdeutlich gesungene Übersetzung des Librettos" rühmen.

Verkehr

Den hiesigen Menschenschlag zieht es ständig raus. Die Saison kündigt sich an, wenn die Blumen Luft wittern. Sie ruft dann: "Trag mal n Jarten raus!" Er trägt die Blumentöpfe raus. Sie: "Aba weit ausnander ufffstellen, dat det wie n Park aussieht." Er tut es. Dann fahren beide nach Jottwehdeh. Als wir wissen wollten, wo der Ort liege, erhielten wir sehr verschiedene Auskünfte.

Beliebt sind Straßentreffs. Im Radio teilen sie einem ständig mit, wo gerade eine Prozession stattfindet. Sie wird auch Stau genannt. Davon gibt es hier viele und man fährt gerne dorthin.

Die meisten Autos auf den Straßen sind nicht unterwegs, sondern auf der Suche nach einem Parkplatz.

Straßen

Berlin verändert sich Schlag auf Schlag. Ein stadtbekannter Literat brillierte vor Jahren mit der Fertigkeit, während der Busfahrt trotz verbundener Augen genaue Ortsangaben machen zu können. Die Schlaglöcher, in Ost-Berlin seinerzeit Blumenkübel genannt, wiesen ihm den Weg.

Als der Senat dieser Tage ein millionenschweres Programm "gegen Schlaglöcher" beschloss, wieherten Traditionalisten auf. Ein FDP-Politiker sprach von "Rosstäuscherei". Die Gilde der Unternehmer blieb im Bild und sieht nur einen "Tropfen auf dem heißen Stein".

Sport

Tennis Bourussia ist ein Fußballverein und Hertha eine Mannschaft, bei der es dauernd um die Wurst geht. Die Spieler tragen typisch deutsche Namen: Gilberto, Dardai, Bastürk, Marx. Der derzeit beliebteste Wasserträger des FV Gesundbrunnen heißt Marcelinho und wird "Pumuckl" gerufen.

Gegnerische Mannschaften schätzen die spielerischen Qualitäten des Vereins als nicht sehr hoch ein. Der Trainer einer Verlierermannschaft meinte, "man kann doch nicht so doof sein" und gegen Hertha noch verlieren. Er behauptete, "das war Halma", was gespielt wurde.

Kultur

Die Kultur. Die Kultur? "Die Garderobieren hängen die Jacken auf und die Kontrolleure blicken prüfend auf die Tickets" bündelte eine überregionale Tageszeitung ihr Lob über den Berliner Kulturbetrieb. Ansonsten sei jeder Besucher "sein eigenes Experiment". Das stimmt!

"Bei Kiekemal und bei Kiekebusch / Blasen Hörner den Abschiedstusch" ist nicht mehr.

Wetter

Der bekannteste Klimaforscher heißt Kurt Tucholsky. Er stellte als erster fest: Über Berlin ist kein Himmel, hier ist nur Wetter.

Seit jeher gilt beim morgendlichen Blick auf das Thermometer die alte Wetterregel: "Det is een Wetter - in ne ärmere Jejend würde se zwei daraus machen."

Politiker werden dem Stand der Wetterkundler zugerechnet. Die Verheißung "blühender Landschaften" wurde als Ankündigung des Frühlings interpretiert. Naht er, so geht ein Ruck durch den Verein der Anonymen Arbeitssüchtigen.

Ausstieg

"Fröhliche Symposien und ernste Arbeit am eigenen Selbst" beschreiben trefflich den Genius Loci. Doch es fällt immer schwerer, ihn zu lokalisieren.
Seine Geistesträger sterben aus. Kneipen und Wohnungsfenster sind die letzten ihm verbliebenen Locations.

Vorbei die Zeit, als der halbblinde Herr Sch. seiner Frau gnadenlos sein Fernsehprogramm aufzwang. Und da die halbtaube Frau Sch. sich in der Kaufhalle lauthals danach erkundigte, ob andere Ehemänner auch andauernd fremdgingen.

"Hörn se mir bloß uff damit. Ick hab die Schnauze voll davon. "

Bitte, beenden wir hiermit unsere Betrachtung des Berliners von unvergleichlichem Glanz; anregend von jeder Seite und, etwa in der Betrachtung seiner Einmaligkeit, ja "mancher ephemer Erscheinungen von positiv belehrender und dichterisch beschwingender Kraft".