Hörfunk-Experiment "Radio Tyrus"

Die Kreuzigung im Mittagsmagazin

07:39 Minuten
Gekreuzigter Christus, Palma de Mallorca, Spanien
Die biblische Geschichte von Jesus' Kreuzigung regt die Menschen seit 2000 Jahren zu anderen künstlerischen Annäherungen an - unter anderem auch die Journalisten vom Sender Freies Berlin © dpa / picture alliance / imageBROKER / Ulrich Fuchs
Von Peter Kaiser  · 14.04.2019
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Die Verhaftung und Kreuzigung Jesu als Live-Reportage - das inszenierte der Sender Freies Berlin 1998 im Stadtradio Berlin 88,8. Es war die wahrscheinlich berühmteste Sendung des legendären Hörfunk-Experiments „Radio Tyrus“.
"Hier ist der phönizische Rundfunk, Radio Tyrus. Seien Sie gegrüßt an diesem Freitag, im 18. Jahr des römischen Kaisers Tiberius. Hier in Tyrus, vor der Küste Palästinas, herrscht das übliche stürmische Frühlingswetter. Genau der richtige Rahmen für das Thema, das uns heute wohl beschäftigen muss und wird."

Ein Wundertäter wird verhaftet

1998 inszenierte der damalige Sender Freies Berlin, heute RBB, im populären Berliner Stadtradio Berlin 88,8 die Verhaftung und Kreuzigung Jesu als Live-Reportage mit moderner Radiotechnik. Juliane Bartel saß im fiktiven phönizischen Studio in Tyrus.
Radio Tyrus: "In Jerusalem ist heute Nacht ein Mann verhaftet worden, auf den haben viele Menschen dort große Hoffnungen gesetzt. Er heißt Jesus von Nazareth, wir haben in Radio Tyrus schon oft über ihn berichtet. Ein Wundertäter, ein Volksprediger, ein Mann mit Charisma. Und nun scheint sein Lebensweg vor einem plötzlichen Ende zu stehen."

Mit der Bibel live auf Sendung

Inge Bongers: "Radio Tyrus war der Anlass, dass man große Feiertagsgeschichten erzählt hat. Eben Ostern, Pfingsten, Weihnachten. Mit Musik, dass es bis zu drei Stunden lang wurde. Es war von Anfang an die Idee, wir machen das wie ein Mittagsmagazin, Morgenmagazin, so wie die Geschichten halt waren, in einem fiktiven Studio", erzählt Sprecherin Inge Bongers.
Und ihre Kollegin Petra Castell ergänzt: "Das war so die Idee, dass man das herausholt aus diesem altertümlichen Legendenfundus, und entstaubt und entmottet und sagt: ‚Leute, hätte es damals schon Radio gegeben, dann hätten wir vielleicht so darüber geredet.’"
Und so berichtete Radio Tyrus zu Weihnachten live aus Bethlehem zur Geburt Christi, brachte eine aktuelle Reportage über die Enthauptung Johannes des Täufers, war beim Staatsbesuch Salomos bei der sagenhaften Königin von Saba akkreditiert, und fing die Atmosphäre am Hof ein. Oder übermittelte direkt vom Hofe des Pontius Pilatus die letzten Nachrichten zur Verhaftung Jesu.

Ein Reporter im Palast des Hohen Priesters

Radio Tyrus: "Wir haben gehört, Jesus soll nach seiner Verhaftung in den Palast des jüdischen Hohen Priesters gebracht worden sein. Wir haben jetzt eine direkte Verbindung dorthin, unser Kollege Jörg Schumacher ist an diesem Ort und kann uns hoffentlich sagen, ob er sich dort immer noch befindet. Jörg, hören Sie? Jörg: Ja, ja, Jesus ist hier, auch wenn wir ihn im Moment nicht sehen können. Vor einer halben Stunde, als ich eintraf, wurde er noch in dieser Halle öffentlich verhört, dann wurde er in einen Nebenraum geführt, denn offenbar ist die Beweiserhebung abgeschlossen."
Fast 30 Jahre lang hat sich das Team um den Rundfunkjournalisten Manfred Voegele in der Sendereihe des "Radio Tyrus" den großen Bibelgeschichten gewidmet. Entstanden ist eine ungewöhnliche Mischung aus Überlieferung, Interviews, Geräuschen, Live-Schaltungen und Volksumfragen vor Ort.

In Hörweite des heiligen Landes

Manfred Voegeles Kolleginnen Inge Bongers und Petra Castell waren zwei der "Radio Tyrus"-Stimmen. Warum der Sender Radio Tyrus hieß, und nicht Radio Jerusalem oder Rom, erklärt Inge Bongers so:
"Weil das der Ort war, von dem wir als Reporter oder Sachverständige oder was auch immer, wir konnten von da neutral erzählen, weil es nicht zum judäischen Reich gehörte. Also wir konnten auch mal sehr flapsig über irgend jemanden reden. Das hätte man nicht gekonnt, wenn man gesagt hätte, wir sitzen jetzt in Jerusalem zum Beispiel."
Petra Castell ergänzt: "Wir waren eben nicht Partei. Wir haben von außen auf die Ereignisse geguckt, und hatten die Distanz, nicht betroffen zu sein. Also außer das Betroffene interviewt wurden."

Jesus nahm die Hintertür

Radio Tyrus: "Michael Klausing meldet sich jetzt plötzlich aus Jerusalem, aus dem Palasthof des Pontius Pilatus, dort spitzen sich die Ereignisse ganz offensichtlich zu. Was gib's Michael Klausing?" - "Die Stimmung hier im Gerichtshof, die heizt sich deutlich auf. Jesus von Nazareth ist offenbar durch einen Nebeneingang in den Palast des Pontius Pilatus zurückgebracht worden. Es sind inzwischen auch die Drahtzieher des Prozesses da. Ich sehe den Hohepriester Kaiphas in heftige Diskussionen verwickelt.
Die Leute haben hier übrigens Transparente mitgebracht. Barabbas steht da drauf. Ich kann nicht genau erkennen, ob hier auch Anhänger von Jesus von Nazareth sind, jedenfalls geben sie sich nicht zu erkennen. Übrigens ist hier ganz seltsames Wetter. Es kommt mir so vor, als würde sich der Himmel verdunkeln, ein ganz eigenartiges Zwielicht."
Alle Sendungen von Radio Tyrus waren extrem detailreich: Was die Menschen in den verschiedenen Regionen des römischen Reiches aßen, wie sie sich kleideten, wie sie sprachen oder aussahen: Alles wurde von den Berliner Reportern recherchiert, erinnert sich Inge Bongers: "Davon haben wir selbst auch noch gelernt. Ich habe zum Beispiel erfahren, dass es Kajal natürlich damals schon gab. Und Juliane Bartel hat dann gesagt: ‚Bring mir unbedingt Kajal mit’, mitten in die Sendung rein, passte dann auch."

Alte Legenden und Stimmen von heute

Alle Beteiligten waren – zumindest Berliner Radiohörern – gut bekannt. Die Schnellsprecherin Inge Bongers galt als profunde Theater- und Filmkritikerin, und Petra Castell, die in der Kreuzigungsgeschichte eine römische Magd sprach, leitete die SFB-Theaterredaktion.
"Wir behielten ja unsere Identität, das war ja der Witz an der Sache", erklärt Castell: "Wir haben auch relativ selten unterbrochen. Wir haben es wie live durchgezogen, auch mit den Pannen, den Versprechern, oder falschen Aussprachen. Das hat die Sache so lebendig gemacht."
Durch dieses Procedere gewannen die alten Geschichten an Verve und Witz. Und waren nach über 2000 Jahren so lebendig, als wären sie Geschichten von nebenan und heute Morgen.

2000 Jahre alte Texte herangezoomt

Petra Castell sagt: "Man kann vielleicht sagen, wir haben es sozusagen aus der Entfernung der alten Texte herangezoomt in unsere Gegenwart. Und plötzlich wird es eben lebendig, weil es so nah ist."
Die Reaktionen waren begeistert – und auch 16 Jahre nach Einstellung von Radio Tyrus erfreuen sich Mitschnitte der Sendungen, die man mittlerweile auch auf CD kaufen kann, noch immer großer Beliebtheit. Die fesselndste Ausgabe von Radio Tyrus dürfte noch immer die "Chronik eines angekündigten Todesurteils" sein, also die Kreuzigungsgeschichte Jesu.
Radio Tyrus: "Pilatus hat angeordnet, dass auf das Brett 'Jesus von Nazareth, König der Juden' geschrieben wird. Das brachte nun Kaiphas und die Vertreter des Hohen Rates in Rage. Jesus sei nicht der König der Juden. Aber Pilatus bestand auf die Formulierung - Jesus von Nazareth liegt völlig zusammengekrümmt am Boden, ein Soldat schüttet Wasser über ihn. Ich frage mich wirklich, wie dieser Mann noch seinen Kreuzbalken tragen soll."
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