Projekt Familienhörbuch

Die eigene Stimme als Abschiedsgeschenk

07:45 Minuten
Während der Aufnahme eines Familienhörbuchs von Judith Grümmer. Zu sehen ist ein Computer-Bildschirm und Aufnahmetechnik.
Die Stimme lebt: Mit dem Projekt Familienhörbuch will die Journalistin Judith Grümmer todkranken jungen Müttern und Vätern eine Botschaft an ihre kleinen Kinder ermöglichen. © Marina Rosa Weigl
Von Brigitte Jünger · 23.01.2022
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Es ist der Albtraum jedes Elternteils: Sterben, wenn die Kinder noch klein sind und man ihnen noch nicht alles sagen konnte, was man wollte. Mit einem "Familienhörbuch" können todkranke Eltern ihren Kindern ein gesprochenes Vermächtnis hinterlassen.
Fragt man die Journalistin Judith Grümmer, warum sie das Projekt „Familienhörbuch“ gegründet hat, sagt sie: „Es gibt eine Gruppe von Menschen, die hatten noch gar keine Zeit, Spuren zu hinterlassen, also wirklich Erinnerungen für die Nachwelt zu schaffen, für ihre Familie. Das sind eben die erkrankten Mütter und Väter mit kleinen Kindern, also Menschen, die eben wirklich in der Lebensmitte stehen oder noch vor der Lebensmitte. Es gibt Leute im Projekt, die sind noch keine dreißig und haben kleine Kinder. Diese Geschichten aufzuzeichnen, habe ich mir zur Aufgabe gemacht.“        

Eine Botschaft an die kleine Tochter

Das klingt dann etwa so:
Liebe Pauline, ich weiß nicht, wann Du das Hörbuch Dir anhörst, aber ich würde mir wünschen, dass Du das Hörbuch vielleicht gemeinsam mit dem Papa anhörst. Es sind viele kleine Kapitel, kleine Geschichten, und ihr holt euch einfach die raus, worauf ihr Lust habt."
Sandra, die mit Ende Dreißig an Krebs verstorben ist, gehörte zu den allerersten Teilnehmern des Projekts "Familienhörbuch". Ihre Tochter Pauline war damals sechs Jahre alt.
„Weißt Du, meine Geschichte, ich erzähle die ganz neutral, weil das Abschnitte sind in meinem Leben, das Du vielleicht eher verstehst, wenn Du älter bist, mit 14, 15, 18, 20 Jahren, wenn Du vielleicht selber mal Dein eigenes Kind bekommst, heiratest, eigene Erfahrungen gemacht hast.“  

40 Menschen arbeiten heute an dem Projekt

Judith Grümmer, die Sandras Lebensgeschichten aufgenommen und zu einem Familienhörbuch gemacht hat, hatte sich als Journalistin schon in den frühen 80er-Jahren auf den Themenbereich Palliativmedizin spezialisiert und den Aufbau der deutschen Hospizbewegung medial begleitet:
“Ich war immer ganz nah an palliativen Themen und bin dann Ende der 80er-Jahre selbst Mutter geworden. Ich habe mich dann immer wieder gefragt: Was würde ich eigentlich machen, wenn ich jetzt so eine Diagnose hätte? Es ist natürlich vermessen, weil man das erst weiß, wenn man in dieser Situation ist. Aber ich habe mir gedacht, ich würde mir einen Kassettenrecorder nehmen und meinen Kindern einfach Geschichten erzählen. Und dieser Gedanke ist mir nie aus dem Kopf gegangen.“

Die Stimme als Nachlass für die Kinder

25 Jahre später hat Judith Grümmer ihre Idee in die Tat umgesetzt. Anfangs war sie allein für die Aufnahmen und ihre weitere Bearbeitung mit Musik und Geräuschen zuständig. Mittlerweile ist aus dem Projekt eine gemeinnützige Organisation geworden, in der sich über 40 Menschen engagieren, darunter Journalisten, Sounddesigner, Komponisten und Tontechniker.
Eine der Audiobiografinnen, die die Gespräche mit den Palliativpatienten führen, ist Maria Teresa Espejo Freitas. Sie hat lange als Psychotherapeutin gearbeitet und war sofort angetan von der Idee des Familienhörbuchs:
„Das Magische für mich war die Stimme. Das hat mich sehr elektrisiert, dass Mütter wie Väter auch ihre Stimme für ihre Kinder hinterlassen können. Das ist ein Riesengeschenk für die Kinder, wenn die mal erwachsen werden: Wer war meine Mutter? Wer war mein Vater? Man kann ja viel lesen oder Fotos anschauen, aber die Stimme lebt, die Stimme bleibt. Und das ist so ein Gefühl von: Meine Mama, mein Papa, die sind noch hier. Sie sind da. Ich kann sie immer wieder hören. Das ist für mich so das Highlight dieser Familienhörbücher."

Die Aufnahmen dauern drei, vier Tage

Seit dem Ausbruch der Coronapandemie finden alle Gespräche nur noch online statt und nicht mehr in Präsenz. Die Projektteilnehmer werden vorher mit der Technik vertraut gemacht und dann nimmt sich eine Audiobiografin wie Maria sehr viel Zeit.
Bei der Aufnahme eines Familienhörbuchs mit einer Protagonistin 2014.
Weinen, lachen, schreien: Bei der Aufnahme eines Vermächtnis-Hörbuchs ist alles erlaubt.© Joachim Rieger
Manche Gespräche gehen über drei bis vier Tage, je nachdem wie viel Kraft die Palliativpatienten aufbringen.
„Wir fangen meistens mit der Kindheit an, mit den Vorfahren, Großeltern, Eltern. Da gehen wir so ein bisschen chronologisch vor, aber die bestimmen immer, was jetzt kommt. Und wir können natürlich dann mal abweichen oder zurück.“
Bei einer Projektteilnehmerin klingen die Titel der Kapitel zum Beispiel so: Unser Sommerurlaub 2014 – Mein Blick auf das Leben – Die Freizeit mit Pauline – Olli und Pauline, ein tolles Team – Religion – Tod.

„Emotionen sind sehr wichtig“

Wie sie ihr Hörbuch gestalten, ist den Teilnehmern selbst überlassen, sagt Gründerin Judith Grümmer: „Vielleicht möchten sie Geschichten vorlesen. Vielleicht gibt es Briefe, die sie auch noch vorlesen möchten. Ein Bilderbuch. Vielleicht möchten sie singen oder Musik machen. Wir können ja auch historische Tondokumente einarbeiten, Musik schon mal auswählen.“
Maria Teresa Espejo sagt: „Es ist alles erlaubt. Weinen, lachen, schreien, alles ist erlaubt, so wie es kommt. Das ist auch etwas, was die lebendig macht. Die Emotionen sind sehr wichtig, sehr wichtig.“
Gut hundert Familienhörbücher sind seit 2017 entstanden, die für die Projektteilnehmer immer kostenlos sind. Die Organisation Familienhörbuch finanziert sich ausschließlich aus Spenden, was das Projekt immer wieder mal an seine Grenzen bringt.

„Die vollen Scheunen der Vergangenheit sehen“

Die Klinik für Palliativmedizin in Bonn war von Anfang an Kooperationspartner und hat das Familienhörbuch im Rahmen einer dreijährigen Pilotstudie begleitet.
Lukas Radbruch, der Leiter der Studie, ist davon überzeugt, dass das Familienhörbuch als therapiebegleitende Maßnahme eine wertvolle Unterstützung für Palliativpatienten sein kann:
„Das steht in einem direkten Zusammenhang mit Lebenssinn. Also: Wie finde ich einen Sinn in meinem Leben und wie finde ich vielleicht auch einen Sinn in dem, was mir jetzt gerade passiert? Da ist die Lebensgeschichte selber ein ganz wesentlicher Faktor. Ich bin sehr geprägt von Viktor Frankl. Das ist ein Psychotherapeut, und der hat das in diesem schönen Zitat zusammengefasst, dass für gewöhnlich die Menschen nur die Stoppelfelder der Vergänglichkeit sehen und nicht die vollen Scheunen der Vergangenheit. Und ich finde, mit dem Familienhörbuch findet man wirklich einen Zugang zu diesen vollen Scheunen. Das ist etwas, woraus schwerkranke Menschen wirklich Kraft ziehen können.“

"Du, mein Kind, bist das Allerallerwundervollste"

Die Auseinandersetzung mit dem Leben verlängert es zwar nicht, gibt einem aber die Möglichkeit, noch einmal auf die eigene Lebensgeschichte zurückzuschauen, das Positive darin zu sehen und die lebendige Stimme für die Zukunft zu hinterlassen. 
Maria Teresa Espejo erinnert sich an einen Moment, der besonders eindrücklich war: „Es war so kurz vor Weihnachten. Ich habe das Hörbuch einer Frau aufgenommen, und sie beendet es, indem sie sagt: ‚Ich bin so dankbar, dass ich dieses Hörbuch machen konnte. Ich habe keine Angst zu sterben, denn ich habe so viel Liebe in meinem Leben erfahren. Auch Du, mein Kind, bist das Allerallerwundervollste, ich bin glücklich.‘ Und das war für mich so: Jetzt kann Weihnachten kommen, Silvester, Ostern, alles. Dafür machen wir das.“   

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