Otfried Preußler: Die Flucht nach Ägypten - königlich böhmischer Teil
Lohrbär Verlag, Regensburg, 2013
380 Minuten, 19,90 Euro
"Die Flucht nach Ägypten - königlich böhmischer Teil. Das ist: wahrhaftige und genaue Beschreibung sämtlicher Vorfälle, Zufälle und Ereignisse wie auch mehrerer Wunder, welche sich damals bei Durchzug der bethlehemitischen Wandersleute im Königreich Böhmen ergeben haben."
Das biblische Bethlehem und das Königreich Böhmen: Fast 2000 Jahre liegen dazwischen. Otfried Preußler würfelt in „Die Flucht nach Ägypten - königlich böhmischer Teil“ die Frohe Botschaft aus dem Matthäus-Evangelium und die Geschichte der Habsburgermonarchie lustig durcheinander - und entschuldigt sich immer wieder ganz höflich dafür.
"An dieser Stelle müssen wir vorsorglich bei geschätztem Hörer um Nachsicht bitten, weil wir schon wieder mal das Telefon ins Spiel bringen werden, wo wir doch selbiges um so lieber vermieden sähen, als es ja weiter oben mehrfach bereits eine Rolle gespielt hat. Und wenn es nach uns ginge..."
1978 veröffentlicht Otfried Preußler eines seiner wenigen Werke für Erwachsene. In „Die Flucht nach Ägypten“ färbt er die biblische Weihnachtsgeschichte mit dem Zeit- und Lokalkolorit seiner Heimat Böhmen: Der Rübezahl, die Sagengestalt des Riesengebirges, und der Heilige Wenzelslaus treffen auf literarische Figuren aus den früheren Erzählungen Preußlers: auf Wachtmeister Hawlitschek und Räuber Schmirgelseff. Eine rasante, sehr menschliche Weihnachtsgeschichte zwischen schnöder k.u.k.-Bürokratie und herzerwärmendem Heimatgefühl.
"Großer Gott ruft die Mutter Gottes erschrocken aus und bekreuzigt sich. Dann aber, ohne mit weiteren Fragen sich aufzuhalten, hebt sie das liebe Jesulein aus der Grippe heraus. Und nachdem sie ihm rasch noch einmal die Windeln gewechselt hat, schlägt sie es in ein doppelt zusammengelegtes Wolltuch ein, wie sie es bei der Heiligen Mutter Anna gelernt hat. Eins, zwei ist das liebe Jesulein eingepackt bis zum Kinn hinauf. Die Flucht kann beginnen."
In Preußlers Sprache liegt Musik
Mike Reisinger und Norbert Vollath lockern das über sechs Stunden lange Hörbuch mit kleinen musikalischen Zwischenspielen auf. An einer Stelle untermalen sie den vorgetragenen Text und lassen die musikalischen Fakten über die Fiktion hinauswachsen: Mit schnaubender Bassklarinette und klackernder Perkussion bringen sie eine Zugfahrt mit märchenhafter Wendung zum Klingen.
"Wenn sie mit dieser Geschwindigkeit weiterfahren, befürchtet der Hawlitschek, werden sie unvermeidlich mit voller Wucht in den anderen Zug hinein rumpeln. Aber der Ziegenbärtige lässt es soweit nicht kommen: Im letzten Augenblick, wie schon der Hawlitschek auf den großen Zusammenkrach sich gefasst macht, bringt er es mit ein paar Handgriffen an den Hebeln fertig, dass sich die Lokomotive aufbäumt in vollem Lauf.
Dann stößt sie sich von den Schienen ab. Und zunächst hat es ganz den Anschein, als ob sie den anderen Zug möchten einfach der Länge nach überspringen wollen. Doch nein, sie bewegen von jetzt an sich steil nach oben, sodass es den Hawlitschek und den Türass nach hinten haut in den Tenderkasten hinein. Und wie sich dann endlich die Lokomotive wieder in horizontale Richtung stellt und der Hawlitschek rappelt sich vorsichtig auf und riskiert eine Blick hinaus, da sieht er zu seinem namenlosen Entsetzten, dass die Maschine sich hoch in die Lüfte erhoben hat..."
Mit dieser phantastischen Szene zeigt sich dann auch, was diesem Hörbuch fehlt: die dynamische Dramaturgie der Musik, die aus dem Text des großen Fabulierers Otfried Preußler ein Hörspiel machen könnte. Doch auch in der Sprache liegt Musik: Preußlers verschwurbelte, gestelzte Sätze trägt Bernhard Setzwein mit gemütlicher, näselnder Stimme vor und macht so „Die Flucht nach Ägypten“ zu einer winterlich wundervollen Prosa für das Kind im Menschen.
"Möge der liebe Herrgott in seinem Ratschluss es fügen, dass wenigstens hinterher, wenn das Unheil an ihnen allen bereits geschehen ist, sie den Weg zueinander finden und ein für allemal ihren Frieden mache auf dieser Welt."