Hörbuch

Ein Kölner dichtet über Istanbul

Von Martin Becker · 08.11.2013
Die Metropole Istanbul ist der Schmelztiegel zwischen Asien und Europa. Die türkische Weltstadt hat viele Lyriker inspiriert - so auch den Kölner Schriftsteller Gerrit Wustmann, der mit "Istanbul Bootleg" ein sehnsüchtiges, melancholisches Gedichtband geschrieben hat. Die Gedichte sind sowohl in deutscher als auch in türkischer Sprache hörbar.
Lesung Gerrit Wustmann: "fünfmal täglich schallt/grüne einsamkeit durch die straßen/hallt der gebetsruf der simitçi/trifft auf stumme katzenpfoten/auf alte schleifwerkzeuge/und die kälte/die kälte unter der haut/die kälte einer grünen tür"
Unendliche Sehnsucht spricht bereits aus den ersten Zeilen von „Istanbul Bootleg“. Eine Sehnsucht, die jeder kennt, der sein Herz schon mal ganz und gar an eine Stadt verloren hat. Der schwelgerische Blick, wenn Istanbul im Nebel versinkt, die Streifzüge durch die Seitenstraßen der Metropole, die Katzen, die Möwen, die Delphine: eine allumfassende Liebeserklärung.
Das Hörbuch ist zweisprachig gehalten: Die deutschen Originaltexte wurden ins Türkische übersetzt und eingelesen – das schafft Atmosphäre. „Istanbul Bootleg“ ist kein lyrischer Reiseführer, der die schönsten Ecken der Stadt in Gedichtform preist. Die Texte sind kryptisch, fragmentarisch, oft ruhelos. "Und wie die Hymne glich auch Istanbul einer Collage, deren Schnittlinien im Unendlichen verlaufen" - nicht nur ein Zitat von Jörg Fauser hat Gerrit Wustmann an den Anfang seiner Gedichtsammlung gestellt: Textfetzen aus Fausers Roman "Rohstoff" montiert er zu einem Gedicht, das programmatisch für sein eigenes Projekt stehen könnte:
Lesung Gerrit Wustmann: "in istanbul meist/in seitenstraßen/und unsereins hatte kredit/wir nahmen alles - tee und süßigkeiten/rohopium hitze und/kälte alter staub/lag auf den fenstern/die halluzination/die alltäglichkeit in der/beatnik-bude mit blick/auf die blaue moschee/arabesken minarette möwen/die konversation/tröpfelte"
Lyrische Streifzüge durch die türkische Metropole
Oft spürt man dem Alltag eines Fremden in der Stadt nach, mischen sich Beobachtungen von der Straße mit privaten Erlebnissen und Erinnerungen. Es sind die Bilder, die sich einprägen. Zum Beispiel, wenn Wustmann einen Bücherbasar beschreibt – und sein Gedicht mit den Worten „geniş zaman“ enden lässt – der unbestimmten Zeit:
"vergeht die zeit anders ist die sonne/älter als die tage auf dem bazar suchen wir/nach antworten von alten bärtigen männern/doch der kahve schweigt die seiten/sind andere ihre sprache verhüllt ihre worte/ein wortloser gesang geniş zaman."
Die Texte des 1982 geborenen Gerrit Wustmann sind sehr musikalisch: Demotapes, B-Seiten, Remixes und Bootlegs, so sind die Kapitel überschrieben. Das Hörbuch nimmt diesen Gedanken auf und trägt zur musikalischen Form von „Istanbul Bootleg“ bei: Die instrumentalen Unterbrechungen zwischen den Texten schaffen fließende Übergänge, verbinden die lyrischen Streifzüge durch die türkische Metropole auf subtile Weise.
Lesung Gerrit Wustmann:"mach mir ein tape/mit songs und gerüchen/und den geräuschen/der französischen straße/deine haare nachts/und dein katzenblick/wo bleibt die musik/jener tage wo bleibt/die melodie deiner sprache/die melodie/deines gesangs von/salzigen nüssen/und tee."
Bei aller Sehnsucht, die aus diesen Gedichten spricht: Gerrit Wustmann entwirft kein verklärtes, kein geschöntes Bild des Istanbul der Gegenwart. Die schmutzigen Ecken zeigt er in seinen Texten, und auch kritisch sind sie, beispielsweise, wenn der Kölner Lyriker in einem Gedicht an politisch verfolgte oder geächtete, türkische Künstler erinnert. Doch das geschieht leise und zart, wie alle Texte dieses Hörbuchs von großer Sanftheit sind. So auch das letzte Gedicht mit dem Titel „Lale“, zu Deutsch „Tulpe“, denn, so merkt der Autor es in seinen Kommentaren am Ende des Buches an: „Die Tulpe stammt aus der Türkei, und nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen, aus Holland“.
"tulpenblätter aus grashalmen/gott wächst am straßenrand/überspannt den highway/der neue anleger wurde heimlich/über nacht gebaut/zähle die minarette das lachen/den ruf und das gebet zähle/wie oft du dich verbeugst/und vor wem und lass dir/am ende tulpen schenken/hinterlasse am bordstein/kalligraphien und postkarten/nimm grüße entgegen/gemurmelte sätze aus/offenen händen/sag was du siehst/in çamlica"
Gerrit Wustmann: Istanbul Bootleg
Erschienen im binooki Verlag, Berlin 2013
Buch mit Hör-CD, 17,90 Euro