Höhepunkt oder Krise

Von Martina Seeber |
Es ist erstaunlich, wie weit sich die Einschätzungen der Musikkritik über Joseph Haydns "Sonnenquartette" op. 20 voneinander entfernen.
Während sich der Brite Donald Tovey begeistert, der Komponist habe die Gattung des Streichquartetts auf eine Höhe geführt, die keine Steigerung mehr zulasse, sorgen sich andere wie Ludwig Finscher über Anzeichen einer "inneren und äußeren Krise". Vielleicht trifft auf die "Sonnenquartette", die ihren Namen dem Titelblatt des Amsterdamer Drucks von 1779 verdanken, beides zu.

Joseph Haydn belässt es nicht dabei, die Gattung zu einer frühen Reife zu führen und damit auf eine Höhe, "die kein Zeitgenosse von Haydn auch nur annähernd erreichen konnte", wie Charles Rosen kommentiert. Er schafft zugleich eine der vielgestaltigsten, experimentellsten und aufregendsten Werkgruppen des 18. Jahrhunderts.

Die für die Gattung fortan so charakteristische Gleichberechtigung aller vier Stimmen ist erreicht. Violoncello und Viola sind von ihrer Funktion als Füllstimme und harmonisches Fundament befreit und nehmen an der motivisch-thematischen Arbeit teil. Darüber hinaus entwickelt Haydn eine Fülle neuer Ausdrucksformen, die mehr von einer schöpferischen Blüte zeugen als von einer krisenhaften Suche. Möglicherweise ist der Aufbruchsgeist den Antriebskräften der Sturm-und-Drang-Zeit zu verdanken.

In den sechs Quartetten schöpft Haydn aus dem Vollen. Er zeigt sich als Tragiker und Komödiant, er verbindet ländliche Einfachheit mit Eleganz, erprobt veränderte Satzfolgen und verhilft der barocken Fuge zu neuem Leben. In der Vielfalt offenbart sich seine Stärke: die Individualisierung der Satztypen.

Mit seinem tänzerisch leichten Kopfsatz ergründet er im Quartett in A-Dur das Terrain höfischer Anmut und tänzerischer Leichtigkeit. Im 6/8-Takt folgt das Allegro di molto e scherzando der Laune des Augenblicks, ohne je die Balance zu verlieren. Es ist eine federleichte Musik, frei von Kämpfen und Konflikten. Selbst die kontrastierende Themengruppe in Moll bietet kein wirkliches Gegengewicht.

Auch wenn die Quartette außerhalb der Dienstverpflichtungen für den Hof des Fürsten Nikolaus Esterházy entstanden sind, spiegeln sie doch den Habitus des höfischen Lebens, wie sie Nikolaus "der Prachtliebende" in seiner verschwenderisch ausgestalteten Residenz im morastigen Uferland des Neusiedler Sees entfaltete und von der Augenzeugen schrieben: "Vielleicht ist außer in Versailles in Frankreich kein Ort, der sich in Rücksicht auf Pracht mit diesem vergleichen ließe".

War der erste Satz dem Tanz gewidmet, versetzt der zweite, Adagio cantabile, mit sanglicher Melodik in die Welt der Oper, wie sie auch auf Esterháza gepflegt wurde. Erst nach diesem Adagio folgt das sonst an zweite Stelle gesetzte Menuett, in dessen Trio die zweite Geige schweigt und alle anderen "auf der tiefen Saite" spielen.

Dass sich Haydn in den Finalsätzen von Opus 20 der barocken Fugenkunst zuwendet, ist oft allein als Konzession an die Ansprüche des norddeutschen gelehrten Geschmacks gewertet worden. Die Fuga a 3 Soggetti entpuppt sich jedoch – wie auch die anderen Fugen dieser Werkreihe – keineswegs als schlichte Rückkehr zum stile antico. Die Kunst der Fuge besteht auch in diesem tänzerischen Satz darin, dem Kontrapunkt Leichtigkeit abzugewinnen. Haydn erreicht sie, indem er die strenge Form lockert, Themen aufspaltet sowie Fragmente motivisch verarbeitet, fortspinnt und kombiniert. Dem starren Formschema verschafft er damit eine Elastizität und Frische, welche die alte Gattung alles andere als gelehrt wirken lassen, was auch der einstimmige Schluss mit einem Augenzwinkern zu bestätigen scheint.