Höflichkeit

Distanz als Form von Nähe

31:28 Minuten
Illustration: Menschen mit vielen Hüten. Ein Mann mit vier Hüten auf dem Kopf grüßt damit eine Frau aus Höflichkeit.
Höflichkeit sei mehr als das Einhalten klassischer Benimmregeln, sagt der Philosoph Nils Markwardt: Sie sei eine "Kultur der Zartheit", notwendig für das Zusammenleben in modernen Gesellschaften. © imago / Ikon Images / Bjorn Rune Lie
Nils Markwardt im Gespräch mit Catherine Newmark · 27.11.2022
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Floskeln, Konventionen, bloße Oberfläche: Man könnte meinen, Höflichkeit sei philosophisch eher uninteressant. Doch sie lässt sich auch als profunde ethische Haltung verstehen, die ein Zusammenleben erst ermöglicht, sagt der Philosoph Nils Markwardt.
Ob Ukraine-Krieg, Identitätspolitik oder Klima-Aktivismus: Der Ton gesellschaftlicher Debatten wird rauer in den letzten Jahren. Natürlich liegt das an den Themen selbst, an gesellschaftlichen Strukturen und Interessenwidersprüchen – am Inhalt. Aber hat es vielleicht auch mit der Form zu tun? Brauchen wir mehr Höflichkeit?

Ein notwendiges Rollenspiel?

Zunächst mag das abwegig erscheinen: Höflichkeit gilt – schon seit Jean-Jacques Rousseau – als unehrlich und künstlich. Und träumen nicht gerade heute viele Menschen davon, sich ganz direkt, unverstellt, „authentisch“ zeigen zu können?
Ja, Höflichkeit sei eine Form des "Theaterspielens", sagt der Philosoph und Publizist Nils Markwardt – aber eine, die in komplexen Gesellschaften womöglich unerlässlich ist.
Eine „Gesellschaft, wo sich viele verschiedene Individuen und Meinungen begegnen“, sei auf bestimmte, regulierte Verhaltensformen angewiesen.

Ethik der Zurückhaltung

Dazu unterscheidet Markwardt zwischen Höflichkeit als reiner Oberfläche, im Sinne reiner Benimmregeln, und Höflichkeit als ethischer Haltung, „ wo solche Begriffe wie Rücksicht, Zuvorkommenheit, Angemessenheit tatsächlich eine Rolle spielen“.
Letztere sei für die „Regulierung des sozialen Verkehrs“ heute womöglich wichtiger denn je.
Porträt von Nils Markwardt.
Höfliche Distanz kann das Zusammenleben erträglicher machen, meint der Philosoph Nils Markwardt. Er ist Mitarbeiter im Kulturressort von "Zeit Online".© Johanna Ruebel
Mit dem Soziologen Helmut Plessner plädiert er „für eine Kultur der Zartheit, die erst mal versucht alles Eruptive, Ausdrückliche und Eindeutige zu vermeiden: Das Unmittelbare soll erst mal ausgeklammert werden, damit man sich begegnen kann“. Gerade eine gewisse Distanz sei also Bedingung für soziale Annäherung.
Dieses scheinbare Paradox ist der Höflichkeit Markwardt zufolge auch anderweitig eingeschrieben: „Einerseits muss sie künstlich sein, andererseits muss sie aber auch natürlich aussehen“.

Jede Höflichkeit hat Grenzen

Lässt sich eine solche Kultur der Höflichkeit auch in Sozialen Medien aufrechterhalten? Und können Höflichkeitsformen nicht auch eine Form des Klassendünkels sein, also der Ausschließung dienen und gesellschaftliche Ungleichheiten zementieren?
Auch darum geht es im Gespräch mit Nils Markwardt – und um die Frage, wo die Grenzen der Höflichkeit verlaufen. Denn eins ist klar, so Markwardt: „Höflichkeit kann keine Reaktion auf alles sein. Die Empörung oder die Skandalisierung haben auch eine gesellschaftliche Funktion – weil Gesellschaften bei aller Zartheit auch darauf angewiesen sind, dass bestimmte ethische Grenzen nicht eingerissen werden.“
(ch)
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