Höchste Zartheit bei Licht und Schatten

Von Sigrid Nebelung · 25.10.2010
Die venezianische Malerei der Renaissance gilt in der ganzen Welt als der Inbegriff von Malerei, Giorgione als ein herausragender Vertreter. Am 25. Oktober 1510 verstarb er vermutlich an der Pest.
Er wurde nur 32 Jahre alt und ist der Geheimnisvollste unter den Malern des venezianischen Goldenen Zeitalters: Die Jahre von 1500 bis 1510 gehören Giorgione und sein Ruhm ist bis heute nicht verblasst. Laut Vasari, dem ersten Biografen italienischer Maler, begann mit Giorgione die "maniera moderna", die neue, moderne Manier einer natur-lyrischen, gerade in der poetischen Aufladung vollkommen verweltlichten Kunst. Vasari erwähnt auch sein Lautenspiel, das ihm Zugang zur noblen Gesellschaft verschaffte.

Carlo Ridolfi nannte den Künstler 100 Jahre später den "Homer" seiner Zeit, der "mit höchster Zartheit Licht und Schatten abzudecken wusste." Danach begann die Zeit der Legenden. Zuletzt hat Roberto Longhi, der "Vater" der modernen Kunstgeschichte in Italien, vor dem Giorgione-Hype gewarnt:

"Tatsächlich wäre schon viel gewonnen, wenn es eines Tages gelingen sollte, über Giorgione einmal ganz normal zu reden, nämlich ohne sich in Musik, Lautenspiel und Poesie zu ergehen, beziehungsweise sich mit 'Tönen' einzulullen."

Was liegt näher, als sich einmal in Castelfranco umzusehen, Giorgiones Geburtsort im Veneto, knapp eine Autostunde von Venedig entfernt.Umgeben von einer alten Stadtmauer, wirkt Castelfranco im Kern wie vor 500 Jahren. Das kürzlich eröffnete Museum heißt "Casa di Giorgione" und liegt gleich neben dem Dom. Hier, in einer Seitenkapelle, hängt die "Pala", die berühmte Altartafel mit der "Thronenden Maria" und den Heiligen Franziskus und Liberale.

Die blutjunge Madonna mit dem schlafenden Kind im Schoß schwebt über dem Grabmal des Condottiere Matteo Costanzo. Die Perspektive ist so gewählt, dass der Blick in die freie Landschaft schweifen kann, mit einer Ortschaft zur Linken und fernen Bergen zur Rechten. Maria beherrscht mit großer Feierlichkeit die Stimmung des Geschehens, nicht minder aber die spätsommerliche Landschaft mit der Kraft des Lichtes, das warm und golden alles überflutet.

Giorgione war ein Schüler von Giovanni Bellini und der Lehrer Tizians. Die "Ruhende Venus" der Dresdner Gemäldegalerie hat Tizian nach dem frühen Tod Giorgiones vollendet. Sehr keusch, sich ihrer Nacktheit kaum bewusst, ruht sie wunderbar in einer Landschaft.

Auch Querverbindungen zu Leonardo Da Vinci und Albrecht Dürer lassen sich nachweisen. Beide hielten sich länger in Venedig auf. Aus Dürers Briefen an seinen Freund Willibald Pirckheimer in Nürnberg erfahren wir Einzelheiten über das Künstler-Leben in Venedig, eingebettet in einer Hierarchie, der Giorgione nichts abgewinnen konnte. Öffentliche Aufträge bekam er kaum.

Sein berühmtes Gemälde "La tempesta", "Das Gewitter", hängt in der Accademia in Venedig. Noch immer rätselt die Kunstwissenschaft, was er damit aussagen wollte: Der gewittrige Himmel, von Blitzen zerrissen, die nackte Frau mit dem Säugling, der stehende Edelmann, der Bach, die Ruinen, die ferne Landschaft – alles ist Teil einer großen Einheit, der Natur. Preis und Lob des Lebens? Oder doch ein geläufiges Thema – das von Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies – in einer säkularisierten Fassung und damit als intellektuelles Rätselspiel konzipiert?

Wie die Natur neu ins Bild kommt - dieser entscheidende Szenenwechsel spielte sich in Venedig dank Giorgione in vollendeter Sanftheit ab.

Giorgione starb wahrscheinlich am 25. Oktober 1510 an der Pest. Über sein Leben weiß man immer noch zu wenig. Er wird ein Intellektueller gewesen sein, der auch Musik komponiert hat, glaubt der Giorgione-Experte Lionello Puppi aus Venedig. Aber schlüssig beweisen kann er das nicht.Giorgiones "Selbstporträt" aus dem Museum in Braunschweig passt allerdings zu seiner These. Der Künstler stellt sich dar als "David". Der biblische David war ja auch ein Poet, der zur Harfe sang, wie Giorgione zur Laute. Sein Blick auf den Betrachter ist melancholisch – diesem fixierenden Blick haben sich schon Autoren wie Samuel Beckett oder Wolfgang Hildesheimer nicht entziehen können.