Hochschule für Gestaltung Ulm

Ende eines intellektuellen Aufbruchs

Die Gebäude der Hochschule für Gestaltung in Ulm.
Aus der Not geboren, aber im Stil des Bauhauses: Das Gebäude der Hochschule für Gestaltung in Ulm © dpa
Von Gerhard Richter · 01.08.2018
Ulm galt nach dem Krieg als Zentrum eines intellektuellen Aufbruchs. Nicht zuletzt wegen ihrer modernen Gestalterhochschule in der Tradition des Bauhauses. Doch ausgerechnet 1968 ist diese Hochschule am Ende. Wie kam es dazu?
Ulm in der Nachkriegszeit: Wiederaufbau der zerstörten Häuser rund um das Münster. Die Alliierten setzen Robert Scholl als Bürgermeister ein, den Vater der von den Nazis hingerichteten Hans und Sophie Scholl. Deren Schwester Inge übernimmt die Leitung der Volkshochschule. Die Stadt entwickelte sich zu einem Brennpunkt des politisch-kulturellen Lebens in der jungen Bundesrepublik − nicht zuletzt wegen ihrer modernen Gestalterhochschule und den Impulsen, die von dort ausgingen. Das ehrgeizige Bildungsprojekt hatte sich vorgenommen die Tradition des Bauhauses fortzuführen und die Moderne in eine feste – eine gut gestaltete – Form zu gießen.
"Wir sahen immer wieder, dass gewisse Dinge, wichtige Anliegen der Gegenwart, einfach nicht bearbeitet sind, wir sahen, dass irgendwo eine Quelle entstehen muss, eine Hochschule, die diese Aufgaben schöpferisch in die Hand nimmt", sagt Inge Aicher-Scholl.
Vom amerikanischen Hochkommissar McCloy bekommt Inge Scholl 1950 eine Million Deutsche Mark, eine weitere Million sammelt sie vom Bundeswirtschaftsministerium, der Stadt Ulm, dem Land Baden-Württemberg und Spendern aus der Wirtschaft. Das Geld geht an die Geschwister-Scholl-Stiftung, denn sie ist Trägerin einer neuen Hochschule, mit der wieder an zerstörte Traditionen angeknüpft werden soll.

Gedeihen echter fortschrittlicher Demokratie

"Und so war es dann möglich, hier auf der grünen Alb-Anhöhe bei Ulm mit dem Bau zu beginnen", berichtet Inge Aicher-Scholl.
Der Schweizer Architekt Max Bill entwirft einen Komplex aus Flachbauten. Eines der ersten Gebäude in Stahlbetonskelettbauweise. Mit Fenster und Türen aus Holz, der Fußboden aus Terrazzo und gepressten Asphaltplatten. Alles schlicht und einfach, einerseits aus der Not geboren, andererseits dem Stil des Bauhauses entsprechend.
Ein Schwarz-Weiß-Porträt des Architekten Walter Gropius.
Der AVater im Geiste: Auch Bauhaus-Gründer Walter Gropius sprach zur Eröffnung der HfG Ulm.© imago / United Archives International
Zur Eröffnung 1955 spricht auch Walter Gropius, der Begründer des Bauhauses: "Und wenn die politische Entwicklung der Zeit stabiler sein wird als in der Zeit des Bauhauses, dann kann die künstlerische Ausstrahlung der Hochschule für Gestaltung über die Grenzen Ulms und Deutschlands hinausgehen und die Welt von der Notwendigkeit und der Bedeutung des künstlerischen Menschen für das Gedeihen echter fortschrittlicher Demokratie überzeugen."

Gestaltungen von der Kaffeetasse bis zur Wohnsiedlung

Nach der NS-Zeit hatte die Hochschule einen klaren Auftrag: eine junge Generation auszubilden, die selbstbewusst genug ist, sich nicht von Ideologien beeinflussen zu lassen. Und ganz selbstbewusst verkündet Max Bill: "Die gesamte Tätigkeit an der Hochschule ist darauf gerichtet, am Aufbau einer neuen Kultur mitzuarbeiten, mit dem Ziel, eine mit unserem technischen Zeitalter übereinstimmende Lebensform schaffen zu helfen, also alle Gestaltungen von der Kaffeetasse bis zur Wohnsiedlung, die dazu da sind, diesen Planeten für unser Leben so gut wie möglich einzurichten."
Die Studenten kommen aus der ganzen Welt nach Ulm. Im ersten Jahr, in der sogenannten Grundlehre, sollen sie eine breite geistige Basis bekommen. Sie studieren Fächer, die es sonst in der deutschen Hochschullandschaft kaum gibt.
"Zeitgeschichte, Philosophie, Gegenwartskunst, kulturelle Anthropologie, Morphologie, Psychologie, Soziologie, Ökonomie und politische Wissenschaften", sagt Max Bill.
Eine Frau geht in Ulm an überdimensioniertem Piktogrammen vorbei. Diese Piktogramnme wurden von Ottl Aicher an der Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG) entworfen. 
Bis heute in jeder Sportschau zu sehen: Die Sportarten-Piktogramme von Ottl Aicher, entworfen für die Olympischen Spiele 1972. © Stefan Puchner dpa
Danach spezialisieren sich die Studenten in den Fachrichtungen Produktform, Architektur, Stadtbau, Information oder visuelle Kommunikation. "Alle diese Abteilungen überschneiden sich an den Sektorengrenzen und sind nie ganz streng begrenzt", erklärt Bill.
Die Studenten müssen praktisch arbeiten, feilen, sägen, schweißen, kneten. Lernen Materialien kennen. Experimentieren mit Formen, Schriften und Piktogrammen. Erforschen serielle Herstellungsprozesse. Diese Kombination aus Praxis und Theorie macht die Hochschule für Gestaltung wegweisend.

Design, das das Erscheinungsbild der Bundesrepublik prägt

"Das Wichtigste ist, dass hier das Berufsbild des Industriedesigners entwickelt wurde", sagt Martin Mäntele, der das HfG-Archiv leitet. Er verwaltet den reichhaltigen Nachlass aus Entwürfen, Diplomarbeiten und Produkten. Schon früh nehmen die Dozenten Aufträge aus der Wirtschaft an, entwickeln gemeinsam mit Studenten Designs für die Industrie. Elektronische Geräte von Braun, Uhren von Junghans, das Logo von Lufthansa und der Sparkasse sind Entwicklungen aus Ulm, ebenso wie die Piktogramme der Sportarten, die für die Olympischen Spiele 1972 in München entwickelt werden und heute noch in jeder Sportschau auftauchen. Farben, Formen und Schriften, die bis heute das Erscheinungsbild der Bundesrepublik prägen.
Ebenso langlebig ist die Kaffeetasse auf Mänteles Schreibtisch. "TC100, Thomas Compact 100, sehr typisch dieser Typenname, also kein sprechender Name, und das Geschirr ist als Diplomarbeit entstanden 1958/59 von Hans Nick Röhricht, der später an der heutigen Universität der Künste Professor für Industriedesign gewesen ist, viele Leute ausgebildet hat, die auch in die Lehre gegangen sind."
Martin Mäntele mit der Tasse TC100 aus dem HfG-Archiv.
Martin Mäntele mit der Tasse TC100 aus dem HfG-Archiv.© Gerhard Richter
TC 100 ist praktisch, leicht herzustellen, stabil, maschinell spülbar und vor allem extrem gut stapelbar. Kein genialer Entwurf eines Künstlers, sondern das schlichte Ergebnis von Beobachtung, Recherche und Berechnung. Wurde 50 Jahre lang hergestellt und jetzt wieder aufgelegt. Ein typisches Beispiel für die ganzheitliche Herangehensweise der Ulmer Studenten. Die Hochschule ist einer der intellektuellen Leuchttürme der jungen Bundesrepublik, Demokratisierung ist mehr als Wahlen und parlamentarische Debatten.

"Schlachtet die Institute wie ne fette Pute"

1968 ändern sich die Verhältnisse. Es brodelt in den Hörsälen. Auch der Eingang der Ulmer HfG hängt voller Protestplakate. "Also auf einem Banner stand: Schlachtet die Institute wie ne fette Pute. Und mit Institute meinte man die Entwicklungsgruppen, die von einzelnen Dozenten geleitet wurden, wo eben Aufträge der Industrie bearbeitet wurden", erzählt Mäntele.
Diese Aufträge sind umstritten, bringen aber Geld in die Kasse der privaten Hochschule. Das ist bitter nötig, weil die Geschwister-Scholl-Stiftung verschuldet ist. Die Hochschule gerät in eine Existenzkrise. Der Zuschuss des Bundes fällt weg, Dozenten können nicht mehr bezahlt werden, das Studienjahr 1969 ist gefährdet. Die HfG ist inzwischen international renommiert, das Land Baden-Württemberg bietet an, sie an andere Hochschulen in Ulm oder Stuttgart anzugliedern, aber nur, wenn im Gegenzug stabile Strukturen geschaffen werden.
Ministerpräsident Hans Filbinger, der später wegen seiner NS-Vergangenheit zurücktreten muss, erinnert sich: "Ich habe zu denjenigen gehört, die dafür waren, der Hochschule für Gestaltung auch für das Jahr `69 eine Chance zu geben. Natürlich hatten wir dafür zu sorgen, dass das Geld auch sinnvoll dem Zweck gewidmet wird, für den es vorgesehen war."

Die Hochschule löst sich auf

Die geforderten Reformen lehnt die HfG aber ab. Zu starr, zu erdrückend erscheint die Fremdverwaltung den Studenten und Dozenten der privaten Hochschule, sagt Martin Mäntele: "Die konnten wirklich selber entscheiden, wer unterrichtet hier, und was wird unterrichtet und diese Freiheit wollte man nicht aufgeben."
Die TC100 in der Ausstellung der HfG Ulm.
Die TC100 in der Ausstellung der HfG Ulm.© Gerhard Richter
Dozenten und Studenten beschließen, dass sich die HfG selbst auflöst. Ein demokratischer Leuchtturm von hoher Strahlkraft – nach 13 Jahren ist er plötzlich erloschen. Genau zu der Zeit, als die Bundesrepublik von einem demokratischen Aufbruchsgeist erfasst wird. Aber im revolutionären Furor, der die Universitäten heimsucht, gerät an der Ulmer Hochschule aus dem Blick, welche Potentiale in ihr stecken. Heute blickt man mit Bedauern darauf zurück, dass die HfG die 68er Revolte nicht überstanden hat. Gerade zu der Zeit, als man in Ulm anfing, über Massenproduktion, Umweltschutz und Nachhaltigkeit nachzudenken.
"Dass man Verantwortung hat als Gestalter für die Umwelt und für die Dinge, die ich da halt in die Welt setze, weil der Begriff Verantwortung war für die HfG natürlich ganz zentral. Da kam's noch zu keiner Lösung, weil einfach die Schule geschlossen wurde, aber das sind die Themen, mit denen sich die Leute bis heute befassen müssen."
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