Hochschulalltag in der Türkei

Studieren unterm Wasserwerfer

Blick auf die Marmara-Universität in Istanbul. Im Vordergrund liegt der Hafen mit Containern.
Blick auf die Marmara-Universität in Istanbul © imago / Westend61
Von Ulrich Ziegler · 26.05.2015
Die Türkei sei auf dem Weg in eine Diktatur, warnt die Opposition - und meint damit den möglichen Umbau zum Präsidialsystem nach einem AKP-Sieg bei den Parlamentswahlen am 7. Juni. Gegen erneute Studenten-Proteste im Zuge der Wahl positioniert sich nun die Polizei.
Ein einsatzbereiter Wasserwerfer steht seit Monaten vor dem Haupteingang der Marmara-Universität in Istanbul. Zwei Jahre nach den Protesten auf dem Gelände des Gezi-Parks und kurz vor der wichtigen Parlamentswahl am 7. Juni ist die Polizeipräsenz unübersehbar.
Die Studentinnen und Studenten die zu den Seminaren und Vorlesungen auf den Campus strömen, sind täglich damit konfrontiert. Wer oder as mit Hilfe der Wasserwerfer geschützt werden soll, ist eine Frage des Blickwinkels:
"Es gibt politische Unruhen, wir stehen kurz vor den Wahlen, wir wollen hier unsere Ruhe haben. Damit wir unsere Ruhe haben, muss die Polizei hier stehen, das ist leider so. Jeden Tag passiert etwas in der Türkei. Und ich glaube das ist dann für die Sicherheit der Menschen. Nicht nur für die Studenten, sondern auch für die Lehrkräfte ist es wichtig, dass die Polizei hier steht. Das ist leider so, es muss sein", sagt Professor Acar Sevim.
Er leitet die germanistische Abteilung an der staatlichen Marmara-Universität in Istanbul, an der über 60.000 Studenten immatrikuliert sind und ist einer der wenigen Professoren, die überhaupt etwas zum Thema Polizeipräsenz sagen wollen. Auf dem Campusgelände ist die Stimmung ruhig und wirkt dennoch angespannt. Elisabeth Otto aus Halle studiert hier als Erasmus-Studentin seit einigen Wochen islamische Theologie. Der Wasserwerfer stört sie seit dem ersten Tag.
"Diese Polizeipräsenz! Und mir wurde gesagt, dass seit den GEZI-Protesten, seitdem die Polizei sehr erstarkt ist, auch die Präsenz stärker geworden ist - auch vor den Universitäten. Gerade an Universitäten gibt es immer wieder Proteste und Bewegungen. Und dann ist natürlich das Zeichen, dass ein Wasserwerfer gleich einsatzbereit vor dem Universitätscampus steht. Ich finde, das ist ein starkes Zeichen wie willkommen oder nicht willkommen kritisches Denken der Studenten ist, kritisches öffentliches Denken."

Polizeipräsenz auf dem Universitätsgelände? Für Elisabeth Otto eine neue, eine unangenehme Erfahrung. Und ihr ist aufgefallen, dass die Polizeikräfte nur manchmal eingreifen.
Proteste und Blockaden - und weit und breit keine Polizei
"Es gibt Proteste, die für mich als Außenstehende schwer zu begreifen sind, die offensichtlich von islamisch orientierten männlichen Gruppen gemacht werden, in denen keine Polizisten zu sehen sind. Dieser Protest kann stattfinden und ist laut und blockiert den Verkehr. Und wenn wiederum Studenten für Bildung oder staatskritisch demonstrieren, wir der Einsatz wahrscheinlich schneller stattfinden."
Seite Erdogan das Land regiert, hat der staatliche Einfluss auf die Hochschulen deutlich zugenommen. Zwar sind die Hochschulen in der Türkei schon seit 1981 der staatlichen Kontrolle unterworfen. Doch der türkische Hochschulrat - das zentrale staatliche Kontrollgremium - stimmt in jüngster Vergangenheit, wenn es beispielsweise um die Besetzung von wichtigen Stellen geht, im Sinne der regierenden AKP-Partei. Die Empfehlungen der Hochschulgremien selbst werden immer seltener berücksichtigt.
Auch hier hat Staatspräsident Erdogan offensichtlich hat das letzte Wort. Auch wenn sich nur wenige Hochschullehrer trauen dies aus Angst vor Repressionen öffentlich zusagen. "Es gibt dringenden Gesprächsbedarf", sagt Professorin Feruzan Akdogan. Sie leitet die Abteilung für deutsche Sprache an der Hochschule.
"Es sind Konflikte, die ausgetragen werden müssen, Konflikte in Richtung Modernisierung. Konflikte auch bezüglich 'wie fasse ich Religion auf', 'wie empfinde ich den Islam.' Und da ist ein Diskussionsbedürfnis. Ich denke, das findet derzeit statt. Und ich bin Optimistin, bleibe Optimistin. Und ich bin mir sicher, dass die Türkei ihren richtigen Weg finden wird."
Richtig überzeugt wirkt sie nicht – eher vorsichtig. Dann will Professor Sevin, der unter anderem ein Buch über den deutschen Geschichts- und Kultur-Philosophen Johann Gottfried von Herder geschrieben hat, doch noch etwas zur politischen Lage in der Türkei und zu Staatspräsident Erdogan sagen:
"Ich vertrete den Standpunkt, dass wir eine schwache Opposition haben, daher kommt seine Macht. Wenn die Opposition schwach ist, dann hat die Regierungspartei mehr Macht. Wen er jetzt genau kritisieren wollte, bleibt im Unklaren. Der starke Einfluss der regierenden AKP hinterlässt seine Spuren auch an den Universitäten. Süheda hat ein anderes Problem. In Deutschland geboren, studiert die junge Frau nun als Gaststudentin an der Marmara-Universität. Sie will Grundschullehrerin in Deutschland werden. Als überzeugte Muslima trägt sie ein enges Kopftuch."
Hin und her gerissen zwischen Berufswunsch und klarem Bekenntnis zur Religion
"Am Anfang des Studiums stand ich vor zwei Entscheidungen. Entweder studiere ich irgendwas. Mit dem Kopftuch im sozialen Bereich ist es ja irgendwie möglich, oder ich entscheide mich für einen Job, für den ich mich auch wirklich interessiere, aber vielleicht am Ende da kein Kopftuch tragen kann. Ich habe mich dann am Ende wirklich für mein Interesse entscheiden. Ich studiere das. Aber ich stell mir jetzt wirklich die Frage, ob ich wirklich meinen Beruf ohne mein Kopftuch ausüben möchte. Das könnte ich, glaub ich, nicht."
Die junge Frau ist hin und her gerissen zwischen Berufswunsch und klarem Bekenntnis zu ihrer Religion. Sie kennt das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe. Sie weiß, dass es an deutschen Schulen kein pauschales Kopftuchverbot mehr gibt. Sie weiß aber auch, dass ein Kopftuch im Einzelfall auch weiterhin verboten werden kann, wenn es "zum gefährlichen Signal" wird.
"Es ist auf jeden Fall so, dass ich in Deutschland manchmal das Gefühl habe, wenn ich einen Raum betrete, zum Beispiel einen Hörsaal, dass sogar der Professor mich sogar so ein bisschen komisch anschaut. Hier sind halt mehr Leute mit Kopftüchern. Ich fühle mich hier dann dementsprechend wohler, weil ich diese Blicke nicht mehr habe. Deswegen stellt sich für mich die Frage, ob ich mein Studium in Deutschland abschließen und dann hierher kommen soll."
Oder eben doch versuchen als Grundschullehrerin in Deutschland zu arbeiten und dort zu leben. Weil sie in Deutschland zur Welt kam, weil sie in Deutschland ihre Familie hat, ihre Freunde, ihre Geschwister.
Gut sieben Prozent der Hochschulabsolventen in Deutschland haben einen türkischen Pass. Viele von ihnen sind bereits in Berlin, Bielefeld, Köln und anderswo zur Schule gegangen, sind also sogenannte ‚Bildungs-Inländer'. Hinzu kommt noch eine große Anzahl an türkischstämmigen Akademikern, die schon längst einen deutschen Pass haben. Und die könnten ein wichtiges Bindeglied zwischen Deutschland und der Türkei sein. Denn mehr als 5.500 deutsche Unternehmen haben mittlerweile Niederlassungen in der Türkei. Junge Fachkräfte mit deutschen und türkischen Wurzeln sind gefragt.
Doch der Wechsel von dem einen in das andere Land ist nicht immer einfach, erzählt Professor Heinz-Peter Mansel, Direktor des Instituts für internationales und ausländisches Privatrecht an der Universität zu Köln. Seit dem Wintersemester 2011 bietet die Universität zu Köln und die Istanbuler Bilgi-Universität den ersten international ausgerichteten Postgraduiertenstudiengang „Deutsches und Türkisches Wirtschaftsrecht" in Deutschland und der Türkei an. Erste Erfahrungen:
"Ein größerer Teil der Studenten hat die Idee zu schauen, wie es ist mal in Istanbul zu leben und schließt nicht aus oder stellt sich sogar vor, dass sie hier bleiben wollen, hier arbeiten wollen, ihr Leben entwickeln wollen. Und viele entdecken, dass sie deutscher sind als sie dachten, und viele entdecken dann dass sie doch in Deutschland arbeiten und leben wollen. Die entdecken stärker ihren deutschen Teil in sich. Was mich überhaupt nicht wundert, weil das ja meine Studenten sind. Aber die Lebensgeschichte hat sie vielleicht dazu gebracht mal darüber nachzudenken wie es wäre, wenn sie im Herkunftsland ihrer Eltern leben."
Es gibt auch den umgekehrten Weg. Jährlich bewerben sich zwei Millionen junge Türkinnen und Türken um die 800.000 Studienplätze in ihrem Land. Und nicht wenige von Ihnen träumen davon für einige Zeit in Deutschland zu studieren - trotz mancher Sprachbarrieren. Die Hochschullehrer aus Bielefeld, Berlin, Köln, Aachen - teilweise selbst mit türkischen Wurzeln - haben ein großes Interesse daran die Zusammenarbeit zwischen ihren und den türkischen Universitäten zu vertiefen. Und auch sie warten gespannt auf den Ausgang der bevorstehenden Parlamentswahlen in der Türkei.
Es wird eine Richtungswahl sein, meint nicht zuletzt Baha Güngör, langjähriger Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle:
"Erdogan wird auf jeden Fall, wenn er auch noch das Präsidialsystem durchsetzen kann, ein sehr, sehr starker Mann sein, hart an der Grenze zum Diktator."
Die Antwort auf die Frage, ob das Land künftig mehr oder weniger allein von Erdogan oder vom Parlament regiert wird, hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeit der Hochschulen.
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