Historisches Monumentalepos

13.07.2012
Mit ihrem gewaltigen Roman "Brüder" erzählt die britische Autorin Hilary Mantel eine literarische Geschichte der Französischen Revolution. Indem sie historisch belegte Ereignisse mit eigener Fiktion überblendet, lernen die Leser die Protagonisten Danton, Robespierre und Desmoulins auch ganz privat kennen.
Unter allen literarischen Gattungen darf das Monumentalepos für sich beanspruchen, eine Domäne männlicher Autoren zu sein. Von Homers "Odyssee" bis Tolstois "Krieg und Frieden" wurden Erzählwerke, die allein durch ihr Ausmaß, ihre Figurenfülle und die Abbildung einer ganzen Epoche eine Sonderstellung einnehmen, ausschließlich von Männern verfasst.

Auch der große Gesellschaftsroman, wie man ihn von Balcaz, Proust oder Musil kennt, war bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein keine Sache von Schriftstellerinnen - nicht, weil sie weniger literarische Genialität besessen hätten, sondern weil ihrem Geschlecht die Erfahrung fehlte, über ein großes Ganzes, einen Staat oder eine Institution zu herrschen.

Diese Erfahrung aber ist die ästhetische Voraussetzung für die Erarbeitung eines Monumentalwerks. Es dürfte kein Zufall sein, dass die ersten Schriftstellerinnen, die solche Mammutbücher in Angriff nahmen, aus England stammen, dem europäischen Land, das als erstes von einem weiblichen Premier regiert wurde. Da wäre zum einen J.K. Rowling mit ihren sieben Bänden "Harry Potter" zu nennen und die 1952 in Glossop geborene, vor drei Jahren mit dem Booker-Preis ausgezeichnete Hilary Mantel.

"Brüder" lautet der deutsche Titel des im englischen Original bereits 1992 erschienenen Riesenromans von 1100 Seiten, in dem Hilary Mantel nichts Geringeres wagt als eine umfassende Erzählung der Französischen Revolution. Im Mittelpunkt stehen drei ausschlaggebende Protagonisten: Georges-Jacques Danton, sein Gegenspieler Maximilien Robespierre und Camille Desmoulins. Der Leser lernt sie in ihren historischen Rollen kennen, als Revolutionäre und Redner, das heißt, als Zentralfiguren der Ereignisse zwischen 1789 und 1799. Und er lernt sie zugleich als Personen mit familiärem und psychologischem Hintergrund kennen.

Denn Hilary Mantel lässt ihr Epos zwei Jahrzehnte vor der Revolution beginnen, in der Kindheit der Protagonisten. Sie überblendet Geschichtsschreibung mit Romanfiktion, verschränkt verbürgte Ereignisse wie die Versammlung auf dem Marsfeld im Juli 1791, den Sturm auf die Bastille, die Hinrichtung der französischen Königsfamilie 1792, mit Alltagsszenen und -dialogen - Dialogen, die ihrer Fantasie entsprungen sind.

Diese Technik hat eine Flut trivialer Historiensagas hervorgebracht. Mit ihnen hat Hilary Mantels Monumentalepos allerdings nichts zu tun. Den 1100 Seiten von "Brüder" fehlt zu einem alles Süffige und Folkloristische. Und sie verfolgen ein historisches Erkenntnisinteresse. Ist, so fragt Hilary Mantel, der Terror ein unausweichlicher Begleiter jeder Revolution? Ihr Buch endet mit der durch den Jakobiner Robespierre veranlassten Hinrichtung Dantons im April 1794. Drei Monate später wurde Robespierre Opfer seiner eigenen Terrormaschinerie.

Die Lektüre dieses Werks erfordert, das sei nicht verschwiegen, ein wenig Geduld. Sie wird belohnt mit einem Blick ins Herz europäischer Geschichte, die in diesen Tagen so aktuell ist wie lange nicht mehr.

Besprochen von Ursula März

Hilary Mantel: Brüder
Aus dem Englischen von Kathrin Razum und Sabine Roth
DuMont Buchverlag, Köln 2012
1101 Seiten, 22,99 Euro
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