Historischer Besuch
Jan Schönfelder und Rainer Erices haben in ihrem Buch "Willy Brandt in Erfurt" den ersten Besuch eines Bundeskanzlers in der DDR minutiös nachgezeichnet. Auf Basis exzellenter Recherche erhellen sie Ablauf und Folgen des Treffens des SPD-Politikers mit Regierungschef Willi Stoph und stellen verborgene Hintergründe dar.
1989, ein paar Monate vor dem Mauerfall, denkt Willy Brandt in seinen Memoiren zurück an einen großen Moment: "Der Tag von Erfurt. Gab es einen in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre?" Zum ersten Mal reiste am 19. März 1970 ein Bundeskanzler in die DDR, zum ersten Mal sprachen die Regierungschefs miteinander. Zweieinhalb Jahre später, im Dezember 1972, schlossen Bonn und Ost-Berlin den Grundlagenvertrag.
Zwei Journalisten aus dem Osten, Jan Schönfelder und Rainer Erices, haben die Ereignisse von Erfurt minutiös nachgezeichnet. Auf Basis exzellenter Recherche erhellen sie Ablauf und Folgen des Treffens von Willy Brandt und Willi Stoph, die verborgenen Hintergründe der Begegnung im Hotel "Erfurter Hof", ihre skurrilen und ihre tragischen Seiten. Sie beschreiben den manchmal komischen, manchmal peinlichen Eiertanz der Diplomaten und die Hauptfiguren beider Seiten, ihre Ambitionen.
Nein, sie konnten nicht zueinander kommen, die Wasser waren zu tief: Brandt - das verhieß schon seine Regierungserklärung von 1969 - wollte "über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander" gelangen. Stoph, Ulbricht und Honecker hingegen rangen verbissen um die Anerkennung ihrer kleinen Republik. Anders als Brandt wirkten die SED-Funktionäre starr, steif - und intrigant, getrieben von kleinlicher Profilierungssucht. Das Ergebnis des Gesprächs war mager, auch in der Rückschau. Die Herren tauschten nur Statements aus, am Abend ging man frostig auseinander.
Was überrascht an dieser Darstellung des "Tags von Erfurt"? Vor allem die Rolle Moskaus: Das Spitzengespräch sollte eigentlich in Ost-Berlin stattfinden; am Streit über den Status West-Berlins drohte es zu scheitern. Doch Brandts Staatssekretär Egon Bahr erhielt in Moskau den Rat, der DDR-Führung einen Ort in der Provinz vorzuschlagen.
Als Brandt dann am Morgen des 19. März mit dem Zug durch Thüringen fuhr, standen Menschen in Trauben an der Strecke und winkten. Am Erfurter Hauptbahnhof kam es zum Tumult; 1000 Bürger oder mehr überschwemmten den Platz, später skandierten sie vor dem Tagungshotel "Willy Brandt ans Fenster!" - bis Brandt sich zeigte, traurig lächelnd, erschüttert. Mit einem Großaufgebot (Deckname "Konfrontation") ging die Stasi gegen die Rebellen vor. Demonstranten wurden auf dem Bahnhofsplatz zusammengeprügelt, über 100 verhaftet; die Fotos von Verdächtigen füllten später 17 Ordner.
Die Monografie "Willy Brandt in Erfurt" besticht durch ihre Faktenfülle. Die Autoren schreiben verständlich, locker, aber distanziert. Auch in der Bewertung jenes 19. März zeigen sie sich zurückhaltend. Sie sehen keine "Kausalität", keine gerade Linie zwischen dem Frühlingstag 1970 und den Ereignissen 1989/90. Die "New York Times" hingegen schrieb schon drei Tage nach dem Treffen: Der Ruf der Erfurter nach Willy Brandt war "ein Ruf, der zu sagen schien 'Wir sind ein Volk'".
Besprochen von Uwe Stolzmann
Jan Schönfelder/Rainer Erices: Willy Brandt in Erfurt.
Der schwierige Weg zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen 1970
Ch. Links Verlag, Berlin 2010, 332 Seiten, 24,90 Euro
Zwei Journalisten aus dem Osten, Jan Schönfelder und Rainer Erices, haben die Ereignisse von Erfurt minutiös nachgezeichnet. Auf Basis exzellenter Recherche erhellen sie Ablauf und Folgen des Treffens von Willy Brandt und Willi Stoph, die verborgenen Hintergründe der Begegnung im Hotel "Erfurter Hof", ihre skurrilen und ihre tragischen Seiten. Sie beschreiben den manchmal komischen, manchmal peinlichen Eiertanz der Diplomaten und die Hauptfiguren beider Seiten, ihre Ambitionen.
Nein, sie konnten nicht zueinander kommen, die Wasser waren zu tief: Brandt - das verhieß schon seine Regierungserklärung von 1969 - wollte "über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander" gelangen. Stoph, Ulbricht und Honecker hingegen rangen verbissen um die Anerkennung ihrer kleinen Republik. Anders als Brandt wirkten die SED-Funktionäre starr, steif - und intrigant, getrieben von kleinlicher Profilierungssucht. Das Ergebnis des Gesprächs war mager, auch in der Rückschau. Die Herren tauschten nur Statements aus, am Abend ging man frostig auseinander.
Was überrascht an dieser Darstellung des "Tags von Erfurt"? Vor allem die Rolle Moskaus: Das Spitzengespräch sollte eigentlich in Ost-Berlin stattfinden; am Streit über den Status West-Berlins drohte es zu scheitern. Doch Brandts Staatssekretär Egon Bahr erhielt in Moskau den Rat, der DDR-Führung einen Ort in der Provinz vorzuschlagen.
Als Brandt dann am Morgen des 19. März mit dem Zug durch Thüringen fuhr, standen Menschen in Trauben an der Strecke und winkten. Am Erfurter Hauptbahnhof kam es zum Tumult; 1000 Bürger oder mehr überschwemmten den Platz, später skandierten sie vor dem Tagungshotel "Willy Brandt ans Fenster!" - bis Brandt sich zeigte, traurig lächelnd, erschüttert. Mit einem Großaufgebot (Deckname "Konfrontation") ging die Stasi gegen die Rebellen vor. Demonstranten wurden auf dem Bahnhofsplatz zusammengeprügelt, über 100 verhaftet; die Fotos von Verdächtigen füllten später 17 Ordner.
Die Monografie "Willy Brandt in Erfurt" besticht durch ihre Faktenfülle. Die Autoren schreiben verständlich, locker, aber distanziert. Auch in der Bewertung jenes 19. März zeigen sie sich zurückhaltend. Sie sehen keine "Kausalität", keine gerade Linie zwischen dem Frühlingstag 1970 und den Ereignissen 1989/90. Die "New York Times" hingegen schrieb schon drei Tage nach dem Treffen: Der Ruf der Erfurter nach Willy Brandt war "ein Ruf, der zu sagen schien 'Wir sind ein Volk'".
Besprochen von Uwe Stolzmann
Jan Schönfelder/Rainer Erices: Willy Brandt in Erfurt.
Der schwierige Weg zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen 1970
Ch. Links Verlag, Berlin 2010, 332 Seiten, 24,90 Euro