Historiker Wirsching bedauert "Konkurrenz in der Erinnerungskultur"

Der Historiker Andreas Wirsching beklagt zunehmende Konkurrenzen in der Erinnerungskultur. Angesichts der vielen Gedenkveranstaltungen zum 9. November verweist er im Deutschlandfunk darauf, dass es bis in die 80er Jahre in der alten Bundesrepublik einen Konsens gegeben habe: Bezüglich der Erinnerungskultur sei es vor allem um die Verantwortung der deutschen Gesellschaft für den Nationalsozialismus und den Holocaust gegangen. Dies sei zunehmend durch eine Pluralisierung des Erinnerns abgelöst worden, so der frühere Direktor des Instituts für Zeitgeschichte. Zwar sei Pluralismus durchaus wünschenswert, doch Wirsching kritisiert eine richtungslose Konkurrenz in der Erinnerungskultur, die dazu führe, dass man nicht mehr miteinander ins Gespräch komme. Jeweils andere Perspektiven würden nicht gelten gelassen, es gebe Tendenzen eines Kulturkampfes. Bestimmte Denkrichtungen des Postkolonialismus etwa neigten dazu, den Holocaust von den spezifischen Bedingungen der deutschen Geschichte zu entkoppeln und ihn mit anderen Genoziden zu vergleichen. Dadurch werde der deutsche Antisemitismus als ein Rassismus unter anderen Rassismen wahrgenommen. Dabei gebe es Unterschiede. Im Antisemitismus seien Juden als gefährliche Konkurrenten in einem welthistorischen Sinne wahrgenommen worden. Dies sei etwas anderes als das Überlegenheitsgefühl gegenüber Kulturen im globalen Süden. Wirsching ruft zu gegenseitigem Verständnis auf. Es sei wichtig, verschiedene Perspektiven zuzulassen, damit es nicht zur Fragmentierung der Gesellschaft komme.