Historiker verteidigt ZDF-Serie zur Wehrmacht
Der Mainzer Zeithistoriker Sönke Neitzel hat die Kritik an der fünfteiligen ZDF-Dokumentation "Die Wehrmacht - eine Bilanz" zurückgewiesen. Der Vorwurf, die Opfer der Wehrmacht würden zu wenig zur Sprache kommen, treffe nicht zu, sagte Neitzel, der die Filmemacher bei der Serie wissenschaftlich beraten hat.
Kassel: Sie haben ursprünglich schon 2005 die Abhörprotokolle des britischen Geheimdienstes ausgewertet und in einem Buch veröffentlicht. Zuerst mal zur Einordnung: Wer ist da wann und wo abgehört worden?
Neitzel: Also, die Briten haben bereits nach Kriegsausbruch 1939 erkannt, dass die kriegsgefangenen Deutschen eine sehr gute Quelle für Informationen sind. Der Mensch hat ein Bedürfnis zu sprechen, und das wussten die Briten auch schon aus dem Ersten Weltkrieg, deswegen haben sie 1939 schon ein Lager eingerichtet, ein Speziallager, das mit Mikrofonen verwanzt war. Und nun waren die ersten Kriegsgefangenen, die die Briten gemacht haben, relativ unspektakuläre Menschen, also Flieger, die abgeschossen worden sind, U-Boot-Fahrer. Man hat dann dieses Lager Trent Park im Norden von London, ein alter Herrensitz, hat das ’42 zu einem Speziallager für, ja, heute würden wir sagen "VIP’s", umfunktioniert, also für Generäle und Stabsoffiziere, und die haben dann dort – 84 an der Zahl, 84 Generäle und Stabsoffiziere – den Krieg verbracht in einer relativ luxuriösen Umgebung und wurden von den Briten dort abgehört.
Kassel: Was sie offenbar tatsächlich nicht gewusst haben, denn in den Protokollen hat man doch den Eindruck, dass die sich so unterhalten haben, als seien sie völlig unter sich.
Neitzel: Genau. Die Briten sind sehr raffiniert gewesen damit, den Leuten glauben zu machen, dass sie also nicht abgehört werden. Man hat sie bewusst konfrontiert mit dem Versuch, Wissen zu gewinnen, hat sie also in Verhörlager gesteckt, und danach kamen sie nach Trent Park, so dass sie dachten, na ja, der Versuch, Informationen zu gewinnen, der ist schon abgeschlossen, und jetzt sitzen wir hier und warten auf das Ende des Krieges.
Kassel: Worüber haben sich diese 84 deutschen oberen Wehrmachtsangehörigen unterhalten in diesen Jahren?
Neitzel: Ja, es sind vier Punkte im Wesentlichen. Sie haben gesprochen über den Bereich Politik und Strategie: Wie geht der Krieg weiter, geht der Krieg verloren, kann man den Krieg noch gewinnen? Sie haben gesprochen über den Bereich Verbrechen, ganz wichtig. Sie haben dann gesprochen ab Juli ’44 über das Attentat auf Hitler, das ist relativ gut belegt, und sie haben gesprochen über die Möglichkeit, mit den Briten zu kollaborieren: Sollen wir irgendwie in der Gefangenschaft einen Beitrag leisten, dass der Krieg schneller verloren geht?
Kassel: Es ist ja schwer, schwarz-weiß zu malen in diesem Zusammenhang, auch – das muss man sagen – die Serie über die Wehrmacht tut das nicht, weder, wenn sie die Ereignisse in Trent Park nachstellt, noch an anderen Stellen. Inwieweit waren denn die Soldaten, die dort abgehört wurden, überzeugte Antisemiten und inwieweit bedeutete das für sie ein Einverständnis mit den Verbrechen oder auch nicht?
Neitzel: Also, ich glaube, der Antisemitismus ist in der damaligen Zeit sehr, sehr weit verbreitet gewesen, und die meisten werden auf jeden Fall eine antisemitische Grundstimmung gehabt haben, genauso wie sie eine antikommunistische Grundstimmung gehabt haben – wobei das Antikommunistische stärker war als das Antisemitische. Es gibt im Prinzip nur einen im Lager, der was Positives über die Russen und über die Kommunisten sagt. Man muss immer fragen: Was heißt Antisemitismus? Wir denken dann natürlich aus unserer heutigen Perspektive gleich an Auschwitz. Das haben sicherlich nur die wenigsten wirklich befürwortet. Aber eine antisemitische Grundstimmung, zu sagen, na ja, also, die Juden, die müssten doch irgendwie aus Deutschland vertrieben werden und so, die ist da, die lässt sich bei sehr vielen nachweisen. Und einige, die eigentlich auch Hitler-Gegner sind, sagen dann doch eben im Gespräch zum Kameraden: Na ja, das mit den Juden war schon ganz richtig, man hätte es nur leise machen müssen.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit dem Historiker Sönke Neitzel über die Abhörprotokolle des britischen Geheimdienstes, die er ausgewertet hat und über die neue ZDF-Serie zur Wehrmacht, die ja heute Abend beginnt. Und in dieser Serie, Professor Neitzel, fällt auch wieder eine Zahl, da wird gesagt, 5 Prozent der Wehrmachtsangehörigen waren an den Verbrechen der Wehrmacht beteiligt. Da muss man noch genauer sagen, es geht um die Ostfront, da waren etwa zehn Millionen, 5 Prozent, ungefähr eine halbe Million. Was ist das für eine Zahl, wie kann man das so genau definieren?
Neitzel: Na ja, es ist immer so die Frage, wenn wir als Historiker darüber reden, über Verbrechen und so weiter, dann kommt man irgendwann an den Punkt, wo man immer wieder gefragt wird, ja, wie viele waren es denn? Der Historiker versucht natürlich, hier mit einem entschiedenen "Vielleicht" zu antworten, mit ungefähren Dingen, es waren viele oder wenige, aber irgendwann geht dann das Gedrängel los und man sagt, wie viele waren es denn? Und der Kollege Müller, Professor Rolf-Dieter Müller aus Potsdam, der hat im "Spiegel" mal vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung eben diese Zahl genannt, diese 5 Prozent, und ich werde mich nun hüten, eine genaue Zahl zu nennen, weil natürlich eine genaue Zahl nie wirklich exakt aus den Quellen nachweisbar ist. Es geht eigentlich bei diesen 5 Prozent, bei diesen 500.000, eher darum, zu fragen: In welcher Dimension waren Wehrmachtangehörige selber Täter, im Sinne von Personen, die jetzt andere Zivilisten, Juden, umgebracht haben? Die Dimension ist dann, glaube ich, richtig, dass man sagt, es sind vergleichsweise wenige gewesen, relativ gesehen, in absoluten Zahlen natürlich immer noch sehr viele.
Kassel: Es gibt eine kleine Kritik an der neuen ZDF-Serie, diese fünfteilige Dokumentation über die Wehrmacht ist überwiegend bei Historikern wie bei Journalisten gut angekommen, aber einige haben doch darauf hingewiesen, dass die Opfer ein wenig zu kurz kommen, die Opfer der Wehrmacht. Nun sind das neue Forschungsergebnisse, man sieht sehr viele sehr junge Historiker auch in dieser Serie. Ist das vielleicht – nachdem ein paar Sachen jetzt erforscht sind – die nächste Aufgabe, sich auch als Historiker ein bisschen stärker den Opfern der Wehrmacht zu widmen?
Neitzel: Also, ich würde jetzt mal ganz ketzerisch sagen, wir müssten eher versuchen, uns mit dem Alltag des Krieges zu beschäftigen. Ich glaube schon, dass wir eine sehr breite Opferforschung haben. Wenn wir mal sehen, was die Holocaustforschung geleistet hat, da haben wir sehr detaillierte Studien, die jetzt sozusagen nicht alle natürlich in diese Serie eingeflossen sind, weil es ja kein Film etwa über den Holocaust, sondern ein Film über die Wehrmacht ist, aber die Opferfrage ist eigentlich in der Forschung relativ gut aufgearbeitet worden. Das Desiderat würde ich eher darin sehen, zu sagen: Wie sah eigentlich der Alltag der Soldaten aus? Wir neigen natürlich – Historiker wie Journalisten – dazu, uns sehr stark auf die Verbrechen, auf Täter und Opfer, zu konzentrieren, aber das ist natürlich nur – so schlimm das war und so wichtig das natürlich für uns ist – ein Segment dieses Krieges, und wir müssen versuchen, auch die anderen Realitäten des Krieges darzustellen.
Neitzel: Also, die Briten haben bereits nach Kriegsausbruch 1939 erkannt, dass die kriegsgefangenen Deutschen eine sehr gute Quelle für Informationen sind. Der Mensch hat ein Bedürfnis zu sprechen, und das wussten die Briten auch schon aus dem Ersten Weltkrieg, deswegen haben sie 1939 schon ein Lager eingerichtet, ein Speziallager, das mit Mikrofonen verwanzt war. Und nun waren die ersten Kriegsgefangenen, die die Briten gemacht haben, relativ unspektakuläre Menschen, also Flieger, die abgeschossen worden sind, U-Boot-Fahrer. Man hat dann dieses Lager Trent Park im Norden von London, ein alter Herrensitz, hat das ’42 zu einem Speziallager für, ja, heute würden wir sagen "VIP’s", umfunktioniert, also für Generäle und Stabsoffiziere, und die haben dann dort – 84 an der Zahl, 84 Generäle und Stabsoffiziere – den Krieg verbracht in einer relativ luxuriösen Umgebung und wurden von den Briten dort abgehört.
Kassel: Was sie offenbar tatsächlich nicht gewusst haben, denn in den Protokollen hat man doch den Eindruck, dass die sich so unterhalten haben, als seien sie völlig unter sich.
Neitzel: Genau. Die Briten sind sehr raffiniert gewesen damit, den Leuten glauben zu machen, dass sie also nicht abgehört werden. Man hat sie bewusst konfrontiert mit dem Versuch, Wissen zu gewinnen, hat sie also in Verhörlager gesteckt, und danach kamen sie nach Trent Park, so dass sie dachten, na ja, der Versuch, Informationen zu gewinnen, der ist schon abgeschlossen, und jetzt sitzen wir hier und warten auf das Ende des Krieges.
Kassel: Worüber haben sich diese 84 deutschen oberen Wehrmachtsangehörigen unterhalten in diesen Jahren?
Neitzel: Ja, es sind vier Punkte im Wesentlichen. Sie haben gesprochen über den Bereich Politik und Strategie: Wie geht der Krieg weiter, geht der Krieg verloren, kann man den Krieg noch gewinnen? Sie haben gesprochen über den Bereich Verbrechen, ganz wichtig. Sie haben dann gesprochen ab Juli ’44 über das Attentat auf Hitler, das ist relativ gut belegt, und sie haben gesprochen über die Möglichkeit, mit den Briten zu kollaborieren: Sollen wir irgendwie in der Gefangenschaft einen Beitrag leisten, dass der Krieg schneller verloren geht?
Kassel: Es ist ja schwer, schwarz-weiß zu malen in diesem Zusammenhang, auch – das muss man sagen – die Serie über die Wehrmacht tut das nicht, weder, wenn sie die Ereignisse in Trent Park nachstellt, noch an anderen Stellen. Inwieweit waren denn die Soldaten, die dort abgehört wurden, überzeugte Antisemiten und inwieweit bedeutete das für sie ein Einverständnis mit den Verbrechen oder auch nicht?
Neitzel: Also, ich glaube, der Antisemitismus ist in der damaligen Zeit sehr, sehr weit verbreitet gewesen, und die meisten werden auf jeden Fall eine antisemitische Grundstimmung gehabt haben, genauso wie sie eine antikommunistische Grundstimmung gehabt haben – wobei das Antikommunistische stärker war als das Antisemitische. Es gibt im Prinzip nur einen im Lager, der was Positives über die Russen und über die Kommunisten sagt. Man muss immer fragen: Was heißt Antisemitismus? Wir denken dann natürlich aus unserer heutigen Perspektive gleich an Auschwitz. Das haben sicherlich nur die wenigsten wirklich befürwortet. Aber eine antisemitische Grundstimmung, zu sagen, na ja, also, die Juden, die müssten doch irgendwie aus Deutschland vertrieben werden und so, die ist da, die lässt sich bei sehr vielen nachweisen. Und einige, die eigentlich auch Hitler-Gegner sind, sagen dann doch eben im Gespräch zum Kameraden: Na ja, das mit den Juden war schon ganz richtig, man hätte es nur leise machen müssen.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit dem Historiker Sönke Neitzel über die Abhörprotokolle des britischen Geheimdienstes, die er ausgewertet hat und über die neue ZDF-Serie zur Wehrmacht, die ja heute Abend beginnt. Und in dieser Serie, Professor Neitzel, fällt auch wieder eine Zahl, da wird gesagt, 5 Prozent der Wehrmachtsangehörigen waren an den Verbrechen der Wehrmacht beteiligt. Da muss man noch genauer sagen, es geht um die Ostfront, da waren etwa zehn Millionen, 5 Prozent, ungefähr eine halbe Million. Was ist das für eine Zahl, wie kann man das so genau definieren?
Neitzel: Na ja, es ist immer so die Frage, wenn wir als Historiker darüber reden, über Verbrechen und so weiter, dann kommt man irgendwann an den Punkt, wo man immer wieder gefragt wird, ja, wie viele waren es denn? Der Historiker versucht natürlich, hier mit einem entschiedenen "Vielleicht" zu antworten, mit ungefähren Dingen, es waren viele oder wenige, aber irgendwann geht dann das Gedrängel los und man sagt, wie viele waren es denn? Und der Kollege Müller, Professor Rolf-Dieter Müller aus Potsdam, der hat im "Spiegel" mal vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung eben diese Zahl genannt, diese 5 Prozent, und ich werde mich nun hüten, eine genaue Zahl zu nennen, weil natürlich eine genaue Zahl nie wirklich exakt aus den Quellen nachweisbar ist. Es geht eigentlich bei diesen 5 Prozent, bei diesen 500.000, eher darum, zu fragen: In welcher Dimension waren Wehrmachtangehörige selber Täter, im Sinne von Personen, die jetzt andere Zivilisten, Juden, umgebracht haben? Die Dimension ist dann, glaube ich, richtig, dass man sagt, es sind vergleichsweise wenige gewesen, relativ gesehen, in absoluten Zahlen natürlich immer noch sehr viele.
Kassel: Es gibt eine kleine Kritik an der neuen ZDF-Serie, diese fünfteilige Dokumentation über die Wehrmacht ist überwiegend bei Historikern wie bei Journalisten gut angekommen, aber einige haben doch darauf hingewiesen, dass die Opfer ein wenig zu kurz kommen, die Opfer der Wehrmacht. Nun sind das neue Forschungsergebnisse, man sieht sehr viele sehr junge Historiker auch in dieser Serie. Ist das vielleicht – nachdem ein paar Sachen jetzt erforscht sind – die nächste Aufgabe, sich auch als Historiker ein bisschen stärker den Opfern der Wehrmacht zu widmen?
Neitzel: Also, ich würde jetzt mal ganz ketzerisch sagen, wir müssten eher versuchen, uns mit dem Alltag des Krieges zu beschäftigen. Ich glaube schon, dass wir eine sehr breite Opferforschung haben. Wenn wir mal sehen, was die Holocaustforschung geleistet hat, da haben wir sehr detaillierte Studien, die jetzt sozusagen nicht alle natürlich in diese Serie eingeflossen sind, weil es ja kein Film etwa über den Holocaust, sondern ein Film über die Wehrmacht ist, aber die Opferfrage ist eigentlich in der Forschung relativ gut aufgearbeitet worden. Das Desiderat würde ich eher darin sehen, zu sagen: Wie sah eigentlich der Alltag der Soldaten aus? Wir neigen natürlich – Historiker wie Journalisten – dazu, uns sehr stark auf die Verbrechen, auf Täter und Opfer, zu konzentrieren, aber das ist natürlich nur – so schlimm das war und so wichtig das natürlich für uns ist – ein Segment dieses Krieges, und wir müssen versuchen, auch die anderen Realitäten des Krieges darzustellen.