Historiker über Urteil gegen KZ-Wachmann

"Später Dienst an der Würde der Opfer"

06:23 Minuten
28.10.2019, Hamburg: Ein 93 Jahre alter, wegen Beihilfe zum Mord an 5320 Menschen angeklagter ehemaliger SS-Wachmann (l) im Konzentrationslager Stutthof wird im Landgericht in den Saal geschoben. Foto: Christian Charisius/dpa/Pool/dpa | Verwendung weltweit
Das Landgericht Hamburg hat den ehemaligen KZ-Wachmann Bruno D. zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. © dpa/ Pool / Christian Charisius
Andreas Wirsching im Gespräch mit Dieter Kassel · 23.07.2020
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In Hamburg wurde ein 93-jähriger ehemaliger KZ-Wachmann verurteilt. Er muss die Haftstrafe nicht antreten. Dennoch sei das Urteil wichtig, sagt Historiker Andreas Wirsching: für die Opfer, die Rechtsprechung und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen.
Im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig wurden während des Zweiten Weltkriegs etwa 65.000 Menschen ermordet. Die Opfer waren Juden, politische Gefangene, Polen. Die Bewachung des Lagers nahe der Ostsee übernahm die SS.
Der Soldat Bruno D. kam in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs, kurz vor seinem 18. Geburtstag, zum KZ Stutthof und wurde als Wachmann eingeteilt. Dafür stand er nun in Hamburg vor Gericht – wegen der Beihilfe zum Mord an über 5000 Menschen, die während Bruno D.s Dienstzeit getötet wurden.
Das Landgericht hat ihn am 23. Juli nach Jugendstrafrecht zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Der 93-Jährige wird seine Haftstrafe also nicht antreten müssen. Für den Historiker Andreas Wirsching, Direktor des Leibniz Instituts für Zeitgeschichte in München, ist diese Entscheidung der Richter "ein salomonisches Urteil".
Es spiegele einerseits einen Wandel im Umgang mit NS-Verbrechen wider: Der Angeklagte habe sich nicht damit herausreden können, er habe nur einen Befehl befolgt. "Das haben frühere Gerichtsurteile der 70er-, 80er- und auch 90er-Jahre noch anders gesehen", sagt Wirsching.

Mehr als nur symbolisch

Andererseits stehe das Urteil für einen pragmatischen Umgang mit dem Angeklagten – indem das Jugendstrafgesetz zur Anwendung gekommen sei. Obwohl der Verurteilte nicht ins Gefängnis komme, habe das Urteil jedoch mehr als nur symbolischen Charakter: "Es ist für die Opfer wichtig – das darf man nicht vergessen. Es ist auch ein später Dienst an der Würde der Opfer", sagt Andreas Wirsching.
Hat dieses Urteil darüber hinaus eine Signalwirkung für weiterer Fälle, die noch zur Anklage kommen könnten, und auch für junge Menschen, für die das NS-Regime und seine Vernichtungslager bereits in weite Ferne gerückt seien?
"Ich glaube, dass diese Prozesse langfristig eine wichtige Funktion haben, weil sie nämlich juristisch dokumentieren, dass es beispielsweise nicht reicht, sich auf eine Art Befehlsnotstand zurückzuziehen", meint der Historiker. Alte "Entschuldungserzählungen" könnten nicht mehr zur Entlastung von Tätern herangezogen werden.

Kultur des Widerstands stärken

Die Dokumentation solcher Fälle könne dazu beitragen eine Kultur des Widerstands zu etablieren – dies vor allem im Hinblick auf ein Erstarken rechtsextremer Parteien und Organisationen. Hier zeigten sich Lücken in der Bildungsarbeit und in der Aufarbeitung.
"Wir haben heute eine politische Kultur, leider Gottes auch mit einer bestimmten Partei am rechten Rand, die es sehr viel stärker erlaubt, sich öffentlich oder in den sozialen Medien zu artikulieren", beklagt Andreas Wirsching. Und diese zu Feindbildern tendierende Sprache bahne der Gewalt den Weg.
(mkn)
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