Historiker: Staatliche Teilung hat in Deutschland keine tiefen Gräben gerissen

Moderation: Gabi Wuttke |
Phänomene wie die Hippiebewegung in der DDR zeigen laut dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, dass die staatliche Teilung Deutschlands nach dem Krieg keine tiefen kulturellen Gräben aufgerissen habe. Jugendliche in Ost und West seien in einer "Sehnsucht nach Freiheit" verbunden gewesen, betonte Kowalczuk. Allerdings seien im Osten die Jugendlichen viel schneller Repressalien ausgesetzt gewesen.
Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat einen Dokumentarfilm über die Hippie-Subkultur gefördert. Der Film mit dem Titel "Wittstock statt Woodstock. Hippies in der DDR" wird am 1. Februar im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums Berlin uraufgeführt. Kowalczuk nimmt an der anschließenden Podiumsdiskussion teil. Vorab stand er im "Radiofeuilleton" Rede und Antwort.

Wuttke: Wofür steht Wittstock, außer für eine Kleinstadt in Brandenburg, in der die Armee Oberwasser hatte?

Kowalczuk: Wittstock ist in dem Falle eines jener vielen Städte und Dörfchen auch, an dem sich am Wochenende hunderte oder auch tausende solcher Jugendlichen trafen und dann gemeinsam Live-Musik hörten oder vor allen Dingen auch anderen Genüssen sich hingaben. Alkohol floss da gewissermaßen in rauen Mengen. Und das artete dann ganz oft auch in Feste, in Partys aus, auf denen die Hüllen fielen, wo also das, was man auch aus den Woodstockfilmen kennt, auch Schlammschlachten stattfanden, was dann wiederum, wie man sich gut denken kann, die Ordnungshüter sowohl der Polizei als auch der Stadtsicherheit auf den Plan riefen.

Wuttke: Also das Ganze auch unter dem Motto Sex and Drugs and Rock 'n’ Roll.

Kowalczuk: Ganz genau so.

Wuttke: Aber spätestens beim Rock 'n' Roll wurde es doch auch schon wieder brenzlig. Wie verhielt sich die SED? Also hat man das erst einmal nur als Biotop so sein lassen, oder ist man sofort irgendwie auf den Plan gerufen worden?

Kowalczuk: Da muss man verschiedene Phasen unterscheiden. Ganz ähnlich wie in der westlichen, in der freien Welt, als die ersten Rock’ n’ Roller im Osten aufkamen und auch Rock 'n' Roll-Fanklubs, das war nicht in den 60er Jahren. Das war um das Jahr 1956 herum, als auch Elvis Presley gewissermaßen in den USA und dann in Westeuropa zur Ikone des Rock 'n' Roll aufstieg. Und damals gab es ja noch die offene Grenze. Das breitete sich also auch ganz schnell in die DDR, nach Osteuropa aus. Und da reagierten die Gralshüter von Kultur und Politik schon sehr allergisch. Einfach aus dem Grunde, weil Rock 'n' Roll als eine dekadente Ausgeburt des US-amerikanischen Kulturimperialismus galt. Demzufolge hat man die Rock 'n' Roller ganz genauso wie die Jazzer verfolgt, teilweise in Gefängnisse und Zuchthäuser eingesperrt.

In den 60er Jahren hat sich dann diese Kultur insofern geändert, als dass Jazz und auch Rock 'n' Roll zunehmend öffentliche Anerkennung auch in der DDR fanden. Aber die neuen Musiktöne, gewissermaßen dieses berühmte Yeah, yeah, yeah von Walter Ulbricht '65 auf dem Kahlschlagplenum der SED steht dann schon nicht mehr für Rock 'n' Roll, sondern steht dann schon für die neue Rockmusik, die sich anfangs eben durch die Rolling Stones und anderen verband, und was sich dann halt sehr schnell ausdifferenzierte.

Wuttke: Und wo hörte man Jimi Hendrix und die Rolling Stones?

Kowalczuk: Also man hörte das, so wie damals auch die meisten Jugendlichen im Westen, im Radio, in den westlichen Radiostationen, die das ausstrahlten. Und dann zunehmend natürlich auch über schwarze Kopien auf Tonbändern, die man verteilte in den Szenen. Und natürlich gab es einen florierenden Schwarzmarkthandel mit westlichen Schallplatten. Im Durchschnitt kostete eine Westschallplatte 100 Ostmark, was eine gewaltige Summe war, was aber im Prinzip jeder Freak und jeder Fan auch bereit war zu zahlen.

Wuttke: Fans zahlen überall in der Welt Unsummen für das, was sie hören wollen. Die Hippies in der DDR nannten sich "Tramper". Und was waren "Kunden"?

Kowalczuk: Da muss man sehr genau aufpassen, das meint ganz oft eigentlich immer dasselbe. Also Tramper waren gewissermaßen diejenigen, die mit Jack Kerouac in der Tasche um ihren kleinen Dorfteich versuchten, irgendwie herum zu trampen. Weiter ging es in der DDR ja nicht.

"Kunden" waren eigentlich, also ihre äußeren Merkmale waren gewissermaßen lange Haare, Jesuslatschen, Jeans, Röhrenjeans, ausgewaschene Jeans, Jeans mit Flicken oder eben auch zerrissene. Dann die berühmten Shell- und Amiparker, also all das, was man im Prinzip auch aus westlichen Bildern kannte. Das gab es in der DDR so oder in ähnlichen Formen. Das besorgte man sich entweder aus dem Westen oder aus Polen oder aus Ungarn. Hinzu kamen selbst gemachte Klamotten. Besonders beliebt waren Arbeitsbekleidungen, die es also eigentlich zu kaufen gab und die man dann neu nähte, färbte, Batik und so weiter. Und dann eben die obligatorischen 500 Ketten, die man um den Hals trug und so weiter.

Wuttke: Selbst aufgezogen und gesammelt.

Kowalczuk: Genau. Und die "Kunden", die haben sich selber so genannt. Das waren also eigentlich weniger Hippies, sondern eher die Blueser, die gewissermaßen so der Bluesmusik hinterher gezogen sind und sich einfach so nannten. "Wir sind eben die Kunden". Ganz besondern einfallsreiche haben dann auch Kundenbücher geführt, was dann insofern besonders witzig ist, als dass in jeder Gaststätte der DDR und in jedem Laden der DDR so genannte Kundenbücher auslagen. Da stand Kundenbuch drauf, oder auch "der Kunde hat das Wort". Und dann sollte man da so einschreiben irgendwie: Schade, dass es hier so dreckig ist. Oder eigentlich sollte man einschreiben, dass es irgendwie so alles so toll ist in dem Laden. Und dass es toll ist, dass es hier also von einer Büchse 1000 Sorten gibt oder umgekehrt von einer Sorte 1000 Büchsen und sonst nichts.

Und diese "Kunden", diese Blueser haben praktisch diese Kundenbücher zweckentfremdet und haben dann so eigene Aphorismen rein geschrieben oder ihre Lebensphilosophie, was dann ziemlich komisch war, insbesondere, wenn man diese Dinger heute liest.

Wuttke: Also es scheint, es war auch eine Kritik an der Gesellschaft in der DDR, die man als sehr piefig empfunden hat. Aber worin unterschieden sich oder unterschieden sich die Träume der Hippies in der DDR überhaupt von den Träumen der Hippies im Westen? Waren die identisch? Wo fing der Freiheitsbegriff an und wo endete er?

Kowalczuk: Also ich glaube, wenn man nach Unterschieden in den Träumen suchen wollte, in den abstrakten Träumen gab es keine Unterschiede. Es ging um Freiheit, es ging um selbstbestimmtes Leben, es ging gewissermaßen um die Entkleidung von diesen spießbürgerlichen Normen, die diese Gesellschaft damals - im Osten wie im Westen - noch prägte.

Der große Unterschied war natürlich, dass man es im Westen, abgesehen von diesen anfänglichen Widerständen aus der Gesellschaft heraus, ja dann doch relativ frei leben konnte. Im Osten gab es da gleich mehrere Grenzen. Die eine Grenze war die Staatsgrenze, über die man als Tramper eben nicht ohne weiteres hinweg kam, was also einem ungezogenen Trampertum und einem ungezogenen Hippie gewissermaßen schon enorme Grenzen auferlegt.

Und dann kam hinzu, dass dieses Anderssein in dieser Gesellschaft natürlich auch anders aufgenommen wurde von der Gesellschaft, eben gerade weil die Partei ja gewissermaßen eine Norm vorgegeben hat, wie man sich zu verhalten hat. Es gab Richtlinien und so weiter und so fort. Und indem man sich schon bekannte mit seinen Haaren, mit seiner Kleidung, dass man eben anders ist, sagte man nicht nur, ich will hier mit dieser Kultur nichts zu tun haben, sondern ich will auch mit diesem Staat hier nichts zu tun haben, das ist mir alles zu eng.

Und insofern ist diese Freiheitssehnsucht, die dahinter steht, deswegen sind auch diese Begriffe Hippies, Tramper, Blueser, gar nicht so trennscharf voneinander gewissermaßen zu trennen, wie man das vielleicht für westliche Kulturen machen könnte, weil das alles sehr fließend war. Und das ging alles ineinander über, weil all diese verschiedenen Kulturen, diese Jugendkulturen dann auch in den späten 70ern, in den 80ern Jahren etwa die Punker, alle immer wieder eine Sehnsucht hatten, nämlich die Sehnsucht nach der persönlichen und nach der gesellschaftlichen Freiheit.

Wuttke: Welche Konsequenzen konnte es denn haben, wenn man sich so ganz auffällig dazu bekannte, etwas anderes zu wollen?

Kowalczuk: Ganz unterschiedlich. Also es ging los von Zwangshaareschneiden, dass man also von der Polizei auf der Straße weg gefangen worden ist, also vor allem Ende der 60er bis Mitte der 70er Jahre, dass dann die Haare geschnitten worden sind. Also solche Geschichten, dass einem die Kleider vom Leibe gerissen worden sind, dass man der Schule verwiesen worden ist, wenn man nicht die richtige Kleidung anhatte, bis hin aber auch zu Entzug des Personalausweises. Man bekam nur einen vorläufigen, so genannten PM12. Das hieß für jeden Polizisten, man musste den Personalausweis in der DDR ja jederzeit griffbereit haben und immer, wenn man nach diesem Ding gefragt wurde, und man hatte praktisch nur diesen vorläufigen Personalausweis, dann war für jeden Polizisten im Land klar, aha, das ist eine Person, auf die ich besonders achten muss.

Wuttke: Und dann kam man auch nicht mehr ans Schwarze Meer?

Kowalczuk: Mit so einem Personalausweis kam man auch nicht ans Schwarze Meer. Und mit so einem Personalausweis kann man zum Beispiel auch nicht mehr nach Berlin, nach Ostberlin. Also ganz oft ist dann Berlinverbot ausgesprochen. Also es gab ganz verschiedene Formen der Stigmatisierung. Wobei man auch festhalten muss, dass natürlich für viele Jugendliche das auch nur eine temporäre Erscheinung gewissermaßen war - ganz wichtig in dem Zusammenhang - anders, als wenn man als offener politischer Oppositioneller sich betätigt hat, hieß das nicht automatisch, dass also eine was auch immer für eine geartete Karriere gewissermaßen für immer und ewig zerstört war.

Wuttke: Muss man das verstehen, dass die Hippies in der DDR so etwas wie eine Parallelgesellschaft waren - so würde man es heute nennen - oder ein Mikrokosmos? Hatte diese Bewegung irgendeine Auswirkung auf die normale Gesellschaft in der DDR?

Kowalczuk: Also es war eine Gegenkultur zur offiziell propagierten Kultur und zu dem, was die FDJ gewissermaßen wollte. Gleichwohl kamen Staat und Partei nach vielen Jahren der Auseinandersetzung mit diesen Gegenkulturen auch nicht mehr umhin, Teile davon zumindest zu versuchen, zu integrieren in ihr eigenes Konzept. Am besten wird das deutlich in den 80er Jahren, als auf einmal, was vorher undenkbar war, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern eben auch aus kulturellen Gründen, dass auf einmal hochkarätige Stars der Rock- und Pop-Musik in die DDR kamen und vor 10.000 oder wie Bruce Springsteen dann vor 160.000 Menschen ein Konzert geben konnten.

Das sind natürlich schon so Situationen, wo der Staat und wo auch die Jugendfunktionäre, die Jugendpolitiker versuchten, auf diese Bedürfnisse in dieser eingemauerten Gesellschaft gewissermaßen zu reagieren. Also insofern gab es durchaus Wirkungen, die für die Jugendlichen selbst durchaus auch positiver Natur waren. Gleichwohl der prinzipielle Ansatz bliebt natürlich ungelöst - die Sehnsucht nach der Freiheit - das konnte dieses Regime diesen Jugendlichen und den späteren Jugendgenerationen eben nicht bieten.

Wuttke: Sex and Drugs and Rock 'n' Roll - das war im Westen ja auch Ausdruck von Euphorie. War es in der DDR manchmal auch eine Verzweifelungstat?

Kowalczuk: Ich glaube, dass eher auch die Euphorie überwog, dass insbesondere dann, wenn die Blueser, die Hippies, die Tramper, wer auch immer, wenn man sich dann traf, in welchen Orten auch immer, dass dann eher ein positives Lebensgefühl überwog, dass man gewissermaßen seine Energie noch auslebte. Das konnte allerdings jederzeit ganz schnell umkippen - da unterschieden sich die Mitte 50er Jahre überhaupt nicht von den späten 80er Jahren - sowie der Staat gewissermaßen seine Gegengewalt zeigte oder auch aufbrachte.

Wuttke: Hat diese Tramperbewegung, haben diese "Kunden", hat dieser offen zutage getragene Widerstand oder die subversive Aktion irgendwas in der DDR hinterlassen?

Kowalczuk: Wenn man das jetzt gewissermaßen historisch interpretieren wollte, dann zeigt sich an diesen und an vielen anderen Beispielen auch, dass erstens die Kraft des Westens für den Osten überhaupt nicht zu überschätzen ist. Kraft heißt eben auch Einfluss. Das schwappte ja gewissermaßen über die Grenzen. Da gab es natürlich auch viel Originäres, viele Formen, die diese Jugendlichen selber entdeckt haben, für sich erfunden haben auch.

Auf der anderen Seite zeigt das auch, dass diese staatliche Teilung, symbolisiert durch die Mauer und Stacheldraht, letztendlich die Kultur auch bei den Jugendlichen, auch wenn die Westler gewissermaßen gar nicht so intensiv in den Osten schauten, sondern lieber nach Frankreich oder in die USA schauten, aber dass diese Kultur nicht solche tiefen Gräben aufgerissen hat trotz Mauer, wie man dann auch in den 90er Jahren immer glaubte, sondern dass es da viel mehr Verbindendes gab, viele ähnliche Erfahrungen. Wenn man also zum Beispiel diese - was jetzt nicht unbedingt etwas mit Hippies zu tun hat - aber wenn man den Roman von Sven Regner, dem Sänger von Element of Crime liest, über seine Erfahrungen gewissermaßen Anfang der 80er Jahre in Bremen...

Wuttke: Herr Lehmann.

Kowalczuk: ...Herr Lehmann, der zweite Teil, dann wird man als Ostler, der das liest, ganz viele Parallelen zu seinen eigenen Erfahrungen feststellen können und wird sagen, aha, na ja, wir haben zwar in unterschiedlichen Systemen gelebt, es gab ganz viele verschiedene Erfahrungen, aber es gibt eben auch gleiche, ähnliche Erfahrungen, die uns dann doch vielleicht mehr verbinden als trennen.