"Ein neues Zeitalter der Angst"
Der Historiker Fritz Stern musste aus Nazi-Deutschland fliehen. An seinem 90. Geburtstag spricht er über die aktuelle Flüchtlingskrise und die aufgeladene Stimmung in Deutschland.
Fritz Stern, einer der profiliertesten Historiker und ein international bekannter und geachteter Intellektueller, lehrte als Professor der Columbia-Universität in New York. Seine Familie ist jüdischer Herkunft und floh 1938 vor den Nationalsozialisten in die USA. Stern beschäftigte sich immer wieder mit der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, äußert sich auch zu aktuellen Fragen.
An seinem 90. Geburtstag hat er mit Deutschlandradio Kultur über seine Einschätzungen zur aktuellen Flüchtlingsdebatte, über die aufgeladene Stimmung und Radikalisierungsbefürchtungen in Deutschland gesprochen. Er fürchte, "dass wir vor einem neuen Zeitalter von Angst" und neuer autoritärer Systeme stehen, sagte Stern. Vor allem Polen und Ungarn seien "Beispiele, die einem Sorgen machen - große Sorgen." Wie schnell Polen von der Demokratie zu einer autoritären Regierung gekommen sei, sei "furchtbar".
Angesichts von Armut, Kriminalität und Terror in der Welt könne man verstehen, dass Angst existiere und um sich greife. "Man braucht sie bloß nicht zu mobilisieren wie die Rechtsradikalen das tun", so Stern. "Dieser Rechtsruck, der mit Angst zu tun hat und die rechtsradikalen Kräfte sowohl in Europa wie in diesem Land, verbreiten ja die Angst. Hinzu komme ein zum Teil massiv anti-elitäres Denken, das sich gegen die Institutionen richte und ebenfalls sehr gefährlich sei.
Auch zum amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf äußerte sich der Historiker. Dort lasse sich ein Populismus beobachten, der mit "allgemeiner Verdummung" einhergehe. Donald Trump in Weißen Haus sei eigentlich undenkbar: "Ein Mensch, der mit Geld und Ignoranz protzt, der kann dieses Land nur ins Unglück stürzen."
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Mit seiner Familie flüchtete Fritz Stern, 1926 in Breslau geboren, schon 1938 vor den Nazis in die USA. Dort hat er Karriere gemacht an der Columbia University, New York, wurde durch seine Bücher, seine Reden, seine Interviews zu einem der bekanntesten und renommiertesten Historiker der Welt. Heute wird Fritz Stern 90 Jahre alt. Ich hatte kurz vor seinem Geburtstag Gelegenheit, mit ihm zu sprechen und habe mit ihm, der ein großer Befürworter der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel ist, darüber gesprochen, wie man denn damit umgehen sollte, dass es inzwischen immer mehr Menschen gibt, die das nicht mehr sind, vor allen Dingen immer mehr Menschen gibt, die Angst haben vor den vielen Veränderungen um sie herum.
Fritz Stern: Ich befürchte, dass wir vor einem neuen Zeitalter von Angst und Illiberalität und neuem autoritären System stehen, wobei ich gleich ein Warnsignal von mir geben würde über Polen und Ungarn: Das sind Beispiele, die einem Sorge machen, große Sorgen und Entrüstung. Wie schnell man Polen sich von einer Demokratie zu einer autoritären Regierung hat ermöglichen lassen, ist furchtbar. Dieser Rechtsruck, der mit der Angst zu tun und die rechtsradikalen Kräfte, sowohl in Europa wie in diesem Land, verbreiten ja die Angst, die handeln ja mit Angst. Das ist sehr gefährlich. Ich erinnere mich wie so oft an den großen Franklin Roosevelt, der gesagt hat, das einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Angst. The only thing we have to fear is fear itself, aber das war ein anderes Zeitalter und ein anderer Geist.
Kassel: Aber diese vielen Politiker, die es in fast allen europäischen Ländern gibt, die es – Sie haben es selber gesagt – in anderer auch Form in den USA gibt, die den Menschen versprechen, wenn ihr mich wählt, dann wird alles wieder ganz einfach, ich habe die Lösung für alle Probleme, und alles wird so sein, wie ihr es in Erinnerung habt. Wie kann man mit denen umgehen, denn die anderen, die ehrlichen Politiker, müssen auch zugeben, es ist nicht einfach, und wir haben sie auch nicht, diese eine perfekte Lösung?
Stern: Nein, das ist eine große Schwierigkeit, da haben Sie völlig recht. Da muss man erst mal, glaube ich, Vertrauen aufbauen, dass Politiker, ganz egal wo, sie müssen sich bemühen, mit den Menschen in ein vertrauliches Zueinander zu kommen. Alles nicht leicht. Ich meine, da es, weiß Gott, Grund genug für Angst gibt. Ich meine, die Angst aus Paris, damals die furchtbaren Sachen aus Paris existieren, und dann selbstverständlich Armut, Kriminalität und Terror – man kann verstehen, dass Angst existiert, um sich greift. Man braucht sie bloß nicht zu mobilisieren, wie die Rechtsradikalen das tun.
Kassel: Haben Sie Angst vielleicht auch vor einer Spaltung der Gesellschaft, wenn wir uns zum Beispiel Deutschland angucken, wo es ja nicht nur die Ängstlichen gibt und die, die sich einer Bewegung wie Pegida anschließen oder einer Partei wie die AfD? Es gibt sie ja auch, diese große Willkommenskultur, wo viele Menschen sehr positiv eingestellt sind, was diese Entwicklungen angeht. Kann das auch zu einer Spaltung der Gesellschaft führen, weil die sich eben nicht mehr miteinander unterhalten können?
Stern: Das ist völlig richtig. Es gibt einen kulturellen Zwiespalt auch gerade in diesem Land. Zum Teil hat das mit Religiösität zu tun, zum Teil mit massivem antielitären Denken und antielitäres Gefühl, das auch sehr gefährlich ist, das sich gegen die Institutionen richtet.
Europäische Einheit in Gefahr
Kassel: Eine der großen Errungenschaften für mich der letzten 50, 60 Jahre, ist die europäische Gemeinschaft, aber in dieser europäischen Gemeinschaft gibt es viele Länder, die bei der Flüchtlingsfrage ganz klar sagen, wir wollen und werden dem deutschen Beispiel nicht folgen. Wenn die Deutschen das unbedingt tun wollen, sollen sie es machen, wir machen es nicht. Könnte auch dieses große Projekt der europäischen Gemeinschaft jetzt noch scheitern an dieser Frage?
Stern: Zumindest muss man sich damit befassen mit der Möglichkeit, aber was für eine ungeheure Errungenschaft das ist, muss man aus der Geschichte her erkennen. Dass die in der Flüchtlingsfrage in keiner Weise gemeinsam agiert, ist an und für sich eine Traurigkeit. Wenn es noch schlimmer kommen sollte, dann ist auch die Möglichkeit, dass England ausscheidet und so weiter und so weiter. Also die Bedrohung ist da. Die Frage ist, kann man damit fertig werden, kann man die EU schützen und verbessern.
Kassel: Und sind Sie optimistisch, glauben Sie, man kann es, glauben Sie, das ist vielleicht auch eine Krise, aus der sie gestärkt hervorgehen könnte?
Stern: Ja, aber im Augenblick sieht es nicht so aus. Wie gesagt, die Warnungssysteme oder Warnungssignale, die aus Polen und Ungarn kommen, sind sehr, sehr beunruhigend, aber auch Dänemark. Wer hätte geglaubt, dass Dänemark und Schweden sich so benehmen würden?
Kassel: Ja, und wir könnten natürlich, wenn wir wollten, die Liste noch fortsetzen: Rechtspopulistische Bewegungen in Frankreich werden immer stärker, Belgien, die Niederlande – die Liste der Länder ist leider vergleichsweise lang, in denen es starke rechtspopulistische Bewegungen gibt.
Stern: Ich wüsste keinen Staat, wo es das nicht gibt.
Populismus in den Vereinigten Staaten
Kassel: Ja, gar nicht mehr wohl tatsächlich nicht, es gibt vielleicht noch einige, wo sie nicht sehr stark sind. Herr Professor Stern, lassen Sie uns doch jetzt zum Abschluss unseres Gesprächs noch von Europa in die USA gehen. Wir haben ja schon erwähnt dieses Phänomen von Menschen, die einfache Rezepte anbieten und damit offenbar doch viele erreichen. Donald Trump ist auch so einer, oder?
Stern: Ja, wie gesagt, das ist ein Populismus, der in den Vereinigten Staaten um sich greift, der mit allgemeiner Verdummung zu tun hat und, wie gesagt, mit starken antielitären Gefühlen und Gedanken. Ich meine, der Gedanke, dass Trump ins Weiße Haus marschieren sollte oder gewählt werden sollte, ist doch eigentlich eine Undenkbarkeit. Ein Mensch, der mit Geld und Ignoranz protzt, der könnte dieses Land nur ins Unglück stürzen. Im Ganzen bei den Republikanern, was fehlt, sind echte Konservative, wirkliche Konservative. Ich meine, die Trumps und Cruz und wie sie alle heißen, sind eher Rechtsradikale, die Errungenschaften wie den Wohlfahrtsstaat und so weiter abbauen wollen, anstatt zu reformieren. Das macht auch große Sorge in diesem Land.
Kassel: Was mir aus der Entfernung da große Sorgen macht, ist auch diese Aggressivität. Wenn man Donald Trump zuhört, dann ist man nicht nur entsetzt darüber, was er sagt, sondern vor allen Dingen auch wie er das sagt. Ist die Politik in den USA aggressiver geworden in den letzten Monaten, Jahren?
Stern: Gar keine Frage, ja. Ich glaube, man muss von Feindschaft reden. Die Feindschaft zwischen den beiden Parteien, wobei die Parteien selber gespalten sind und in keiner Weise so funktionsfähig wie sie früher waren. Die Feindschaft zwischen den Parteien führt dazu, dass selbst der Präsident, meines Erachtens der sehr, sehr gute Präsident Obama von Dysfunktionalität gesprochen hat. Das ist erschreckend. Ich meine, dass es im Kongress dysfunktional vor sich geht wegen der Parteien, ist doch ziemlich klar. Ich glaube, Amerika kann sich das nicht leisten als Weltmacht, selber eine dysfunktionale Regierung zu haben.
Kassel: Sagt der Historiker Fritz Stern, der heute seinen 90. Geburtstag feiert. Das Gespräch mit ihm habe ich übrigens natürlich vor dem Ergebnis der Vorwahlen in Iowa geführt, bei denen Donald Trump nun nicht gewonnen hat, was allerdings, wie wir wissen, noch lange nicht heißt, dass er am Ende nicht doch ins Weiße Haus einziehen könnte.