Historiker Frank Bösch

1979 war eine Zeitenwende − in jeder Hinsicht

Die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher begrüßt am 17. März 1984 die Modedesignerin Katharine Hamnett, die ein T-Shirt als Protest gegen die nukleare Pershing-Rakete trägt.
Premierministerin Margaret Thatcher trat ihr Amt 1979 an. Parallel formierte sich die Friedens- und Umweltbewegung. Das Foto (1984) zeigt sie mit Modedesignerin Katharine Hamnett. © Press Association Archive
Moderation: Ute Welty · 25.01.2019
1979 wird Margaret Thatcher britische Premierministerin, in Deutschland werden die Grünen wichtig und die iranische Revolution jagt den Schah vom Thron. Ereignisse, die Weichen für heutige Verhältnisse stellten, sagt der Historiker Frank Bösch.
Ute Welty: 1979 – für Historiker Frank Bösch ist das das Jahr, in dem die Welt von heute beginnt. Mit der iranischen Revolution, mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, mit dem Neoliberalismus einer Margaret Thatcher in Großbritannien. Frank Bösch hat darüber ein Buch geschrieben, "Zeitenwende 1979". Guten Morgen, Herr Bösch!
Frank Bösch: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Mit dem Begriff ’Wende’ dürften die meisten ja eher ’89 verbinden denn ’79. Was ist Ihnen aufgefallen, worauf andere bislang nicht geachtet haben, was dieses Jahr angeht?
Frank Bösch, Direktor des Zentrums für zeithistorischen Forschung (ZZF), aufgenommen am 06.10.2017 in Potsdam (Brandenburg) in seinem Arbeitszimmer. Seit 25 Jahren wird am ZZF Gesellschaftsgeschichte beschrieben, es beschäftigt sich mit der Vorgeschichte der Gegenwart». (zu dpa Korr Bericht "Potsdamer Zentrum: Forschungen zur Geschichte der Gegenwart") Foto: Bernd Settnik/dpa-Zentralbild/ZB | Verwendung weltweit
Frank Bösch, Direktor des Zentrum für zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam.© picture alliance/dpa-Zentralbild
Bösch: Wir sind es in der Tat ja gewohnt, die deutsche Zeitgeschichte von 1989 her zu denken. Und für Ostdeutschland gerade war das natürlich ein zentraler Umbruch. Dennoch ist mir aufgefallen, dass viele aktuelle Herausforderungen ein Jahrzehnt vorher auftreten, die Herausforderungen, die uns heute beschäftigen, wie der Islamismus beispielsweise, der mit der iranischen Revolution einen ganz entscheidenden Schub erhält. Oder die Aufnahme außereuropäischer Flüchtlinge beginnt Ende der 70er-Jahre mit der Aufnahme der Boat-People aus Vietnam. Den Neoliberalismus, Thatcher, haben Sie eben gerade schon erwähnt, man könnte aber die ökonomische Globalisierung noch ergänzen. China öffnet und reformiert sich 1979 unter Deng Xiaoping und wird damit zum mächtigen Player. Oder um ein letztes Beispiel vielleicht zu nennen: Die Energiewende, die heute diskutiert wird, nimmt damals einen entscheidenden Ausgangspunkt mit dem großen Atomkraftunfall nahe Harrisburg, aber auch mit der zweiten Ölkrise, wo klar wird, so kann es nicht weitergehen bei der Energieversorgung.

Dann kamen die Grünen

Welty: Mit den Grünen, die beginnen, sich zu formieren und dann, ein Jahr später beziehungsweise im Januar ’80 sich gründen auch.
Bösch: Ja. Auch das ökologische Denken ist ja eines der wichtigen Paradigmen heute, man könnte sagen, ähnlich wie der Neoliberalismus. Und die Grünen formieren sich 1979, schließen sich europaweit bei den Europawahlen 1979 zusammen, auch das ein wichtiger Beginn. Die europäische Einigung kriegt Ende der 70er-Jahre einen Schub. Und man könnte auch das Geschichtsdenken beispielsweise hinzufügen. Die Fernsehserie "Holocaust", die ja auch gerade im Fernsehen wiederholt wurde, ist ein ganz entscheidender Einschnitt. Seitdem ist der Holocaust ein entscheidendes Paradigma bei der Bewertung der jüngeren Zeitgeschichte, der vorher gar nicht so sehr im Bewusstsein vieler Deutscher war.
Welty: Wobei die Grünen sich in Ihrem Buch ein Kapitel teilen müssen, und zwar ausgerechnet mit Margaret Thatcher. Das ist auf den ersten Blick eine, wie soll ich sagen, mutige Kombination?
Bösch: In der Tat, erst mal ist das ungewöhnlich. Aber das verweist auf den generellen Grund, warum diese Ereignisse so gehäuft auftreten. Wir haben in den 70er-Jahren einen sehr starken Krisendiskurs. Es gibt Proteste, es gibt die Wahrnehmung, dass es keine Zukunft mehr gebe, dass die staatliche Planung eigentlich die Welt nicht mehr besser machen könnte. Und daraus entstehen neue Visionen, neue Ansätze, neue Konzepte. Und das verbindet am Ende tatsächlich auch Thatcher mit den Grünen. Die Wahrnehmung, man müsse eine grundlegende Wende machen, man müsste ganz neue Wege gehen, das ist etwas, was Thatcher proklamiert für den Markt – "There is no alternative", "Es gibt keine Alternative", sagt sie. Aber auch die Grünen sagen, es kann nicht so weiter gehen mit der Umweltverschmutzung. Es gibt keine Alternative zum ökologischen Denken. Und solche Parallelen können wir in vielen Bereichen ausmachen. Auch der Islamismus ist am Ende eine Vision, eine ganz neue Staatsform, eine ganz neue Art zu leben entsprechend in dieser Krise anzubieten.

Millionen auf der Straße und Geiselnahme in Teheran

Welty: Inwieweit spielt es auch eine Rolle, dass die maßgeblichen Entwicklungen 1979 eher so was haben wie Prozesscharakter und nicht unbedingt in der Erinnerung mit Einzelereignissen verknüpft sind?
Bösch: In meinem Buch beginne ich in jedem Kapitel – es sind insgesamt zehn Ereignisse und Wandlungsprozesse, die ich untersuche, immer in den 50er-, 60er-Jahren. Es geht um langfristige Veränderungen, die aber dann mit einem großen Paukenschlag tatsächlich auf den Weg dringen. Natürlich gibt es vorher schon einen konservativen Islam, der sich gegen den liberalen Staat formiert. Aber die Revolution, der Moment, wo drei Millionen Menschen auf die Straße gehen, wo Geiselnahmen in der US-Botschaft stattfinden, die machen doch auf ganz neue Art und Weise den Islam sichtbar und führen übrigens auch dazu, dass negative Stereotype über den Islam aufkommen. Jetzt kursieren Bilder über die Scharia, über Frauen, die verschleiert sind, die dazu führen, dass Ausländerfeindlichkeit auch um 1979 aufkommt. Die Boat-People beispielsweise werden freudig aufgenommen, es gibt eine große Spendenbereitschaft, Willkommenskultur, würde man heute sagen. Aber es gibt auch die ersten Brandanschläge. 1980 werden zwei Vietnamesen von Rechtsradikalen getötet.
Welty: Welche Fehler sind damals gemacht worden, die sich möglicherweise inzwischen wiederholen?
Bösch: Man kann generell sagen, dass es einen neuen Aufbruch gab, der aber oft scheiterte. Und hier zeigt sich die Ambivalenz des Ganzen. Das ökologische Denken beispielsweise nimmt zu in dieser Zeit, aber gleichzeitig nimmt auch der Konsum weiter zu. Bildlich gesprochen, die Kühlschränke verbrauchen weniger – es gibt damals, 1980, große Maßregeln über den Energieverbrauch –, aber die Kühlschränke werden größer und man kauft sich noch eine Gefriertruhe.

Erstmals Überlegungen zum Benzinverbrauch

Welty: Das gilt ja auch für Autos.
Bösch: Das gilt auch für Autos. 1979 wird erstmalig auch in der Werbung Benzinverbrauch und Ähnliches als Angabe eingeführt, Verbrauchsregulierung. Die Autofahrer sollen selbst sehen, wie viel Sprit ihr Auto verbraucht. Es wird auch beim Heizen eine Nebenkostenrechnung in Westdeutschland eingeführt. So was war nicht überall bisher verpflichtend. Aber gleichzeitig wird mehr verbraucht, die Wohnungen werden größer, oder manche schaffen sich einen Zweitwagen an. Und so könnte man die anderen Themen auch behandeln. Die Religion beispielsweise tritt ganz neu auf den Plan. Auch in Lateinamerika, auch in Polen, das ich behandle, wo der Papst entscheidend mobilisiert, die Solidarnosz aufkommt. Aber die Religion schafft nicht nur neue Gemeinschaften, sie beginnt auch zu spalten.
Welty: Jetzt kann man sich ja verlieren in der Fülle der Ereignisse eines Jahres. Nach welchen Kriterien haben Sie entschieden, das kommt ins Buch, und das bleibt draußen?
Bösch: Ich habe nur Ereignisse ausgewählt, die erstens damals schon eine weltweite Bedeutung hatten, die grenzübergreifend ausgestrahlt haben und auch Deutschland mit verändert haben, und die für heutige Herausforderungen und Probleme stehen. Das heißt also, nachhaltige Ereignisse. Und der Grundansatz des Buches ist, dass man die deutsche Geschichte etwas anders betrachtet. Dass man Ereignisse, die fernab irgendwo passieren – eine Revolution in Nicaragua, im Iran, der Wandel in China –, dass man das mit in die deutsche Geschichte reinschreibt, weil sie beeinflussten eben auch unseren Verlauf. Länder, die vorher kaum jemand kennt, wie Nicaragua, gerade mal so groß wie Schleswig-Holstein, reisen nun plötzlich Linksbewegte auf, um für eine gerechtere Weltordnung zu kämpfen oder fair gehandelten Kaffee dann wiederum nach Deutschland zurückzubringen. Und das alles zeigt, wie die Globalisierung funktioniert.

Manche Ereignisse brauchen Abstand

Welty: Spielt uns unser Gedächtnis in Bezug auf ’79 auch den einen oder anderen Streich, weil 40 Jahre doch eine recht lange Zeitspanne sind, aber eben nicht unbedingt lang genug, um sofort als historisch zu gelten?
Bösch: In der Tat braucht man bei vielen Ereignissen etwas Abstand, um sie zu gewichten. Wir können auch erst später sehen, welche Themen tatsächlich dauerhaft relevant werden. Damals haben die Zeitgenossen allerdings schon all diese Ereignisse als Einschnitt wahrgenommen. In dem Moment, wo etwa die Serie "Holocaust" kommt, merken die Zeitgenossen, hier ist etwas fundamental anders, das ist ein Paradigma, das wahrscheinlich bleibt. Dass diese Paradigmen aber tatsächlich geblieben sind 40 Jahre danach, das wissen wir erst jetzt. Und darum ist so ein Buch, meine ich, jetzt eben auch sinnvoll.
Welty: Historiker Frank Bösch über das Jahr 1979. Ich danke Ihnen!
Bösch: Vielen Dank!
Welty: Das Buch von Frank Bösch erscheint heute bei Beck. "Zeitenwende 1979" umfasst 512 Seiten und kostet 28 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Frank Bösch, "Zeitenwende 1979"
C.H. Beck, 2019
512 Seiten, 28 Euro

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