Historiker fordert mehr Transparenz im Umgang mit NS-Vergangenheit

Michael Wildt im Gespräch mit Susanne Führer · 10.01.2012
Der Wissenschaftler von der Berliner Humboldt-Universität begrüßt den Wunsch vieler Ministerien, ihre Nazi-Vergangenheit aufzuarbeiten. In vielen Behörden gebe es jedoch Schranken, die einen "freien, offenen und wissenschaftlichen Zugang" zu historischen Akten erschweren, sagt Wildt.
Susanne Führer: Im Jahr 2005 setzte der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer eine Historikerkommission ein. Sie sollte die Rolle des Auswärtigen Amtes während des Nationalsozialismus erforschen und die Rolle der Nationalsozialisten im Amt nach 1945. 2010 erschien das Ergebnis der Arbeit als Buch - "Das Amt" widerlegte die Legende, deutsche Diplomaten hätten sich quasi im Widerstand befunden, im Gegenteil: Das Auswärtige Amt sei tragender Teil des NS-Regimes gewesen. Für das breite Publikum war das ein ziemlicher Knaller. Michael Wildt ist Inhaber des Lehrstuhls Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt Nationalsozialismus an der Berliner Humboldt-Universität. Ich grüße Sie, Herr Wildt!

Michael Wildt: Hallo, guten Tag!

Führer: Jetzt laufen ja in vielen weiteren Bundesministerien und auch Behörden, also der Polizei und den Geheimdiensten vergleichbare Forschungen wie damals zum Auswärtigen Amt. Erwarten Sie noch grundlegende neue Erkenntnisse?

Wildt: Ja, ich denke, das fördert noch einiges zutage. Wenn Sie daran denken, dass gerade wir vom Bundesnachrichtendienst erfahren haben, dass er vor einigen Jahren, als die Welle dieser Aufarbeitung der einzelnen Bundesinstitutionen begann, kurz untergeordnete Referenden offensichtlich haben 250 Personalakten verschwinden lassen, in den Shredder getan haben, dann kann man ungefähr erkennen, dass da doch noch einiges über die Kontinuitäten zwischen nationalsozialistischem Regime und Bundesrepublik schlummert, die der Entdeckung durchaus harren.

Führer: Nach dem, was bisher nach außen gedrungen ist - wo Sie das Stichwort Kontinuität nennen -, scheint es so, dass diese personelle Kontinuität, also alte Nazis in neuen Anzügen, noch größer war als gedacht offenbar in der jungen Bundesrepublik Deutschland.

Wildt: Ja, offenkundig. Also ich glaube, unter Historikern ist das kein Thema mehr, dass einen Neuigkeitswert hätte, aber ich denke, für die große Öffentlichkeit ist das schon noch mal erstaunlich, wie groß diese Dimensionen und die Kontinuität, die personelle Kontinuität gewesen ist, die sich bisher so an Personen wie Globke oder Oberländer entzündet hat, also ehemaligen Bundesministern, oder Globke, der Kommentator der Nürnberger Rassegesetzgebung, der dann der Kanzleramtschef bei Adenauer gewesen ist.

Aber die paradoxe und ganz eigene Erkenntnis dabei ist, dass diese alten Nationalsozialisten ja nur noch in einem begrenzten Umfange überhaupt - wenn sie es denn überhaupt vorgehabt hätten - nationalsozialistisch hatten wirken können. Dass die Kraft der Institutionen, auch der neuen demokratischen Institutionen und des republikanischen und vor allen Dingen rechtsstaatlichen Umfelds, diese Kontinuitätsträger, wenn wir sie so einmal nennen wollen, doch entscheidend eingehegt hat.

Da gibt es durchaus Kontinuitäten, die einen erschrecken lassen können, wenn der Chef des Landeskriminalamtes in Bremen ein ehemaliger Adjutant des Chefs der Einsatzgruppe B, von Nebe - also jemand, der an den Morden in der Sowjetunion unmittelbar dran Anteil hatte -, der in Bremen LKA-Chef werden kann. Aber deswegen hat es in Bremen keine nationalsozialistische Polizei nach 45 mehr gegeben.

Führer: Wieder die alte Debatte: Formt das Amt den Menschen oder der Mensch das Amt? Herr Wildt, jetzt sind es ja die Enkel, oder manchmal sogar auch die Urenkel, die es jetzt ganz genau wissen wollen. Wenn man mal bedenkt, auch wieder über 40 Jahre nach 1968, wo das ja eigentlich einsetzte, die Diskussion über den Nationalsozialismus. Warum so spät?

Wildt: Ja, oder warum erst jetzt? Ich glaube, dass es schon auch jetzt eine neue Generation von Amtsleitern und Chefs und Ministern und Staatssekretären, Abteilungsleitern in diesen Ministerien auch sind, die deutlich viel gelassener - ähnlich übrigens wie in der Industrie - deutlich gelassener mit dieser nationalsozialistischen Vergangenheit umgehen können, für die es nicht mehr ein Wissen ist, das unbedingt vertuscht werden muss, weil man sonst in den Geruch käme, eine braune Institution zu sein, sondern dass man heute weiß, diese nationalsozialistische Vergangenheit gehört zu diesen Institutionen und auch zu diesen Unternehmen dazu, und es gilt für eine, gewissermaßen die eigene Unternehmens- oder Ministeriumsbeschreibung dazu, diese Vergangenheit aufzuarbeiten.

Führer: Na, und das Schöne ist, dass die Vergangenheit jetzt ja auch wirklich vergangen ist. Es kann ja eigentlich niemand mehr belangt werden oder zur Verantwortung gezogen.

Wildt: Ja, das ist richtig. Das ist nunmehr eine historische, keine strafrechtliche Aufarbeitung mehr. Es ist in einem Punkt, in einer Berufsgruppe ist es sicherlich skandalös gewesen in der Nachkriegszeit, das betrifft die Richter, dass also ein ganzer Berufsstand gewissermaßen sich selbst exkulpiert hat, also entschuldigt hat, nicht zur Rechenschaft gezogen worden ist, das ist - und gerade dieser, der Recht sprechen sollte - das ist sicherlich eines der, wollen mal sagen, nachhaltigsten Kontinuitäten zwischen NS-Regime und Bundesrepublik.

Führer: Der Historiker Michael Wildt über den Aufarbeitungsboom der NS-Vergangenheit in Ministerien und Behörden. Herr Wildt, ich hatte bisher immer gedacht, so ein Wissenschaftler, ein Historiker sucht sich seinen Gegenstand selbst und beginnt dann zu forschen. Hier scheint es ja immer umgekehrt zu sein: Ein Ministerium oder der BND sagt, Mensch, das sollten wir jetzt mal aufarbeiten lassen, schreiben aus, suchen sich die Historiker aus und beauftragen die damit. Ist das merkwürdig oder ist das ein üblicher Vorgang?

Wildt: Nein, das ist eher sozusagen dieser Situation und auch, ich glaube, diesem Begehren der jeweiligen Bundesministerien geschuldet. Da steckt schon ein gewisser, sagen wir mal, historischer TÜV-Wunsch dahinter, dass man gewissermaßen durch eine Kommission nachher geprüft NS-frei ist. Und das übliche Verfahren ist ein anderes, dass die öffentlichen Institutionen, die Ministerien, aber auch der Bundesnachrichtendienst und der Verfassungsschutz ihre Unterlagen, Akten an das Bundesarchiv abgeben und dort im Rahmen des Bundesarchivgesetzes jeder Bürger, jede Bürgerin der Republik das Recht hat, diese Akten ihrer Ministerien öffentlich und von Steuergeldern finanzierten Institutionen einzusehen. Und das finde ich eigentlich, ist auch der übliche Weg, sollte auch hier der übliche Weg sein. Bei mir runzeln sich schon etwas die Stirnfalten, ...

Führer: Aber - Entschuldigung - um das jetzt noch mal zu klären: Ist es offenbar nicht, also es kann jetzt nicht jeder kommen und sagen: Mensch, Finanzminister, lass mich mal deine Akten sehen!

Wildt: Ja, leider Gottes. Wir haben nicht wie in den USA einen Freedom of Information Act. Und da ist auch etwas, glaube ich, womit eine transparente, offene Gesellschaft auch stärker darüber debattieren sollte, ob nicht so etwas zu einer demokratischen Gesellschaft auch eben Jahrzehnte nach dem Nationalsozialismus in der Lage sein sollte.

Führer: Also das heißt, es gibt dann eine kleine Gruppe von Personen eben, oder manchmal sogar auch nur eine Person, also die berühmte Historikerkommission, die hat Zugang zu den Akten, und die anderen nicht?

Wildt: Ja, vorläufig. Beim Bundeskriminalamt ist es so, dass die Akten, die von der Historikerkommission gesehen worden sind, dann auch gleich ans Bundesarchiv abgegeben worden sind. Aber denken Sie an die Debatte zum Beispiel beim Bundesnachrichtendienst, dort auch dürfen, wenn ich es richtig verfolgt habe, die Historiker, die dort im Augenblick arbeiten, nicht alle Akten sehen, sondern diese Akten werden BND-intern noch einmal geprüft, ob sie diese Kommission zu sehen bekommt. Und ich finde, da sind Beschränkungen am Werk, die auch eigentlich einen freien, offenen und wissenschaftlich soliden Zugang zu solchen Akten erschweren und nicht akzeptabel sind.

Führer: Und ist das rechtlich korrekt? Ist es nicht so, dass Bundesakten nach fünf Jahrzehnten ohnehin der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind?

Wildt: Ja, das ist so, aber die Behörden müssen natürlich das Personal zur Verfügung stellen können, um diese Akten dann gewissermaßen aus den Kellern zu sortieren und zu sichten und dann im Bundesarchiv abzugeben. Da stecken häufig die Begründungen, warum das nicht passiert, und beim Bundesnachrichtendienst, auch beim Verfassungsschutz sind es häufig dann auch die Begründungen, dass es sich noch um Staatsgeheimnisse handelt, die nicht freigegeben werden dürfen, oder dass Erkenntnisse befreundeter Dienste, sprich der amerikanischen oder britischen oder anderen westlichen Alliierten dort vorhanden sind, über die der BND nicht verfügen dürfe. Da gibt es eine Vielzahl von, sagen wir mal, Ausflüchten auch, diese Akten nicht zur Verfügung zu stellen, und viele meiner Kollegen haben auch entsprechend immer wieder versucht - und sogar mit Gerichtsurteilen -, an Akten zu kommen, die der BND dann doch rausgerückt hat, was zum Beispiel den Fall Eichmann betrifft.

Führer: Und die wenigen Ihrer Kollegen, die dann jetzt diesen Zugang haben, die also in einer dieser Kommissionen sitzen, ist das nicht für die auch eine große Verführung, sich dann auch ein bisschen privilegiert zu fühlen und dadurch vielleicht auch ein bisschen befangen zu werden?

Wildt: Na, ich hoffe nicht. Also die Kollegen, die ich kenne, sind eigentlich alles gestandene Historiker, von denen ich in jedem Fall annehme und weiß, dass sie solide und kritisch diese Akten prüfen werden, und von daher würde ich denen - persönlich, glaube ich, kann man denen schon sehr vertrauen.

Es ist etwas strukturell, glaube ich, etwas Problematisches dabei, dass diese Behörden nicht selber darüber entscheiden sollten, welche Kommissionen, welche Historikerkommissionen gebildet werden, sondern dass diese Öffentlichkeit, auch die gesellschaftliche Öffentlichkeit insgesamt, ein Recht darauf hat, hier Transparenz zu verlangen und diese Akten einsehen zu dürfen.

Führer: Sagt Michael Wildt. Er ist Inhaber des Lehrstuhls Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt Nationalsozialismus an der Berliner Humboldt-Universität. Danke Ihnen herzlich fürs Gespräch, Herr Wildt!

Wildt: Ja, ich danke Ihnen, Wiederhören!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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