Historiker: Deutschland hat sich vor Reparationen gedrückt

Hagen Fleischer im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 02.03.2010
Hagen Fleischer, Historiker an der Universität in Athen, hält die von Griechenland erhobenen Reparationsforderungen gegenüber Deutschland für berechtigt. Griechenland habe von allen nicht-slawischen Ländern bei weitem die höchsten Besatzungsverluste erlitten. Dennoch hätte Griechenland lange schon offiziell auf Reparationszahlungen verzichten sollen, so Fleischer.
Liane von Billerbeck: Der griechische Regierungschef Papandreou wird in Berlin erwartet, denn Griechenland braucht Hilfen oder Zusagen für Finanzhilfen von der EU, ohne die das Land bald pleite sein könnte. Die griechische Regierung steht mit dem Rücken zur Wand und kann derzeit nichts weniger brauchen als Probleme mit Deutschland, dem größten Nettozahler der EU. Doch genau die drohen derzeit, denn ausgelöst durch deutsche Presseberichte, in denen die Griechen pauschal als Betrüger dargestellt wurden, kocht in diesem Zusammenhang ein ganz anderes Thema hoch: Statt Griechenland den Spekulanten zum Fraß vorzuwerfen, solle Deutschland endlich Entschädigungen zahlen für die materiellen Schäden der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht 1941 bis 44. Über die Geschichte der Reparationszahlungen und den Umgang damit wollen wir jetzt mit Dr. Hagen Fleischer sprechen, er ist Historiker an der Universität von Athen. Schönen guten Morgen!

Hagen Fleischer: Schönen guten Morgen!

von Billerbeck: Faule Südländer und Betrüger in der Eurofamilie, so wurden die Griechen in deutschen Medienberichten bezeichnet. Woran erinnert den Historiker diese Sprache?

Fleischer: Leider nicht nur den Historiker, sondern auch den Durchschnittsgriechen, und vor allem viele politische Gruppen finden dabei Gelegenheit, sich zu profilieren, denn dem Griechen mit seinem insgesamt guten historischen Gedächtnis ... , da kommen ihm also wirklich traumatische Erinnerungen an die deutsche Besetzung 1941 bis 44 hoch. Denn genauso schimpfte zum Beispiel ein Wehrmachtsgeneral, der 1943 die Kleinstadt Kalavryta zerstören und 700 Männer exekutieren ließ, die Griechen pauschal: ein "Sauvolk” der "Nichtstuer, Schieber und Korrupteure”. Ein wörtliches Zitat. Und nicht nur Kalavryta, sondern Hunderte griechische Dörfer wurden von den Deutschen -im damaligen Wehrmachtsjargon- platt gemacht, in manchen wurden auch die Frauen und Kinder brutal ermordet.

von Billerbeck: Nach der Taktik "Verbrannte Erde", die wir auch aus anderen Ländern in der Zeit der deutschen Besetzung kennen.

Fleischer: Ja, das war so ... Griechenland hat von allen nicht slawischen Ländern ... - dort gab es eben dieses nazistische Rassemotiv, also slawische Untermenschen und so - Griechenland hat von allen nicht-slawischen Ländern bei Weitem die höchsten Besatzungsverluste erlitten, und trotzdem waren die enthaltenen Entschädigungen minimal, fast nur die 1960 vereinbarten 115 Mio DM für "NS-typische Opfer" (aus Gründen der Rasse, etc.) – eine Summe niedriger als die für Holland, das kein einziges verbranntes Dorf hatte, aber eine bessere Lobby.

von Billerbeck: Wie wird denn das Thema Entschädigungen für die Zerstörungen aus der deutschen Besatzungszeit während des Zweiten Weltkrieges derzeit in Griechenland diskutiert, und wer bringt diese Forderungen auf?

Fleischer: Die Forderungen geben natürlich insbesondere den extremen Gruppen gute Gelegenheit; auch bei den großen Parteien ufern zum Teil die Forderungen aus, sowohl in Summen als auch im Stil, in dem sie vorgebracht werden. Aber das ist das bekannte Phänomen, dass sich dann der gute Stil, gut in Anführungszeichen, eben beiderseits hochschaukelt. Das ist wirklich so, die Eskalation ist derzeit zu spüren.

von Billerbeck: Nach dem Krieg 1946 hat es ja eine Konferenz gegeben eine Paris, eine Reparationskonferenz, und da ging es auch um Zahlungen für die Schäden, die Griechenland erlitten hatte während der Besatzungszeit. Welche Summen sind denn da Griechenland zugestanden worden, was war denn das Ergebnis dieser Konferenz?

Fleischer: Summen wurden gar nicht zugestanden. In Griechenland immer noch, trotz meiner jahrzehntelangen Forschung auf diesem Gebiet, haben manche es immer noch nicht gemerkt: es wurden keine Summen festgelegt, lediglich Prozentsätze, am "Reparationskuchen” von Deutschland, von dem niemand wusste, wie groß er ist, nur - das einzig Gesicherte - dass er viel, viel, viel kleiner war als die von Deutschen verursachten Schäden hätten erforderlich gemacht.

von Billerbeck: Das heißt, man hat eine Prozentsumme für Griechenland zugestanden als anteilig wie für alle Länder, die Zerstörungen erlitten hatten, und man wusste gar nicht, wie hoch die Summe dann sein würde?

Fleischer: Überhaupt nicht, und vor allem, die Summe wurde immer kleiner, weil also viele (Industrie-)Anlagen zum Beispiel, die bereits vorgesehen waren von den "großen” Alliierten ...

von Billerbeck: Zur Demontage?

Fleischer: ... Demontage ja, und zur Lieferung an die geschädigten Länder, die wurden dann bald wieder zurückgebracht im Rahmen des eskalierenden Kalten Krieges, denn insbesondere den Amerikanern war es wesentlich wichtiger, ein Bollwerk, wie es hieß, gegen den kommunistischen Osten aufzubauen, als irgendwie die ganzen Ansprüche der "kleinen” Alliierten - die nicht gefragt wurden - zu befriedigen.

von Billerbeck: Bleiben wir mal bei der Rolle der großen Mächte - USA vor allen Dingen, Großbritannien, Frankreich -, wie haben die versucht, diese Reparationszahlungen, ja, zu erhalten oder abzuwiegeln, welche Rolle haben die gespielt?

Fleischer: Also da muss man unterscheiden: einerseits die Amerikaner, die sehr schnell die Deutschen gefördert haben, da man die Deutschen mittlerweile für die Remilitarisierung, für den Aufbau der Bundeswehr und so weiter brauchte ... In sehr vielen Dokumenten heißt es, um den guten Willen der Deutschen zu erhalten, muss man eben ein Auge zudrücken gegenüber ihrer Vergangenheit. Ein erster Versuch, die Erregung darüber in den diversen ehemals besetzten Ländern abzuwiegeln, war der Marshallplan, mit dem man denen anderweitig Hilfe zukommen ließ.

von Billerbeck: Nun gab es ja 1953 noch mal ein Abkommen, das sogenannte Londoner Schuldenabkommen, auch da ging es um Zahlungen auch an Griechenland. Was ist damals geregelt worden, was war das Ergebnis davon?

Fleischer: Das Londoner Schuldenabkommen betraf nur Vor- und Nachkriegsschulden. Auf deutschen Wunsch, der insgeheim den Amerikanern vorgebracht wurde, wurden Reparationen völlig ausgeklammert und zwar bis auf den imaginären Zeitpunkt, wie man damals glaubte, einer deutsch-deutschen Wiedervereinigung, etwas, was unter den damals gegebenen Umständen niemand erwartete. In den Akten erscheint dauernd der Begriff "griechische Kalenden”, also der Sankt-Nimmerleins-Tag. Und das entkräftet den Vorwurf gegenüber den Griechen, die den größten "Nachholbedarf” haben, weil sie eben keine Lobby hatten und sich auch nicht wie Polen oder Tschechen oder Russen oder auch die Franzosen selber entschädigen konnten durch abgetrennte Territorien et cetera, et cetera. Der Vorwurf, dass die Griechen jetzt erst damit kommen, ist ungerecht, denn von 1953 bis 1990 war es einfach juristisch unmöglich, solche Forderungen vorzubringen.

von Billerbeck: Weil es einfach kein einiges Deutschland gab, sondern zwei deutsche Staaten. Nun hatten wir aber 1990 ein vereinigtes Deutschland, das entstand nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag. Nun hätte man ja sagen können, das ist ein Friedensvertrag, da hätte Griechenland ...

Fleischer: De facto ja.

von Billerbeck: ... de facto hätte Griechenland doch sagen können, okay, jetzt ist der Punkt erreicht, den wir zwar nicht erwartet haben, jetzt wollen wir die Zahlungen, die quasi aufgeschoben worden sind, endlich haben. Warum hat Griechenland diese Forderungen nicht gestellt?

Fleischer: Griechenland hat die Forderungen gestellt, sowohl gegenüber der Regierung Kohl als auch gegenüber der Regierung Schröder, aber die wurden im Allgemeinen bereits vom Türsteher abgewiesen und die Noten wurden zurückgeschickt, weil man sagte, na jetzt, jetzt ist so viel Zeit verflossen. Mit anderen Worten, man hat auf den Zeitablauf hingewiesen, genau auf den Zeitablauf, der dauernd in den Jahrzehnten davor betrieben wurde, was eben aus den bundesdeutschen Akten eindeutig nachvollziehbar ist.

von Billerbeck: Das heißt, durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag hat Deutschland sich erneut davor gedrückt und die Chance genutzt, das Geld nicht zahlen zu müssen, das es hätte zahlen ...

Fleischer: Nicht nur nicht zu zahlen, sondern sich noch nicht mal an den Verhandlungstisch zu setzen, wie man zum Beispiel mit stärkeren Lobbys machen musste: Also mit den Amerikanern - zum Beispiel Zwangsarbeiterabkommen oder irgendwelche Emigranten, die zum Teil, bei kleinen Emigrantengruppen, also höhere Entschädigungszahlungen erhalten haben als ein kompletter Staat wie Griechenland, mit der wirklich total zerstörten Infrastruktur nach dem deutschen Abzug.

von Billerbeck: Es geht ja bei diesen oder ging bei diesen Verhandlungen ja nicht nur um die Zerstörung, die total zerstörte Infrastruktur in Griechenland, die Sie eben erwähnt haben, sondern auch darum, dass sich Deutschland zusätzlich zu den Zerstörungen noch ein Zwangsdarlehen, quasi mit vorgehaltener Pistole von der griechischen Staatsbank "geliehen", in Anführungsstrichen, hat. Was ist eigentlich mit diesem Geld?

Fleischer: Ja, dieser von den Griechen an die Deutschen gegebenen Kredit deckt nicht die von der Haager Landkriegsordnung vorgesehenen Besatzungskosten, sondern unter anderem auch horrende Aufwendungen für Rommels Kriegsführung in Nordafrika. Denn viele Lieferungen und Transporte gingen über Griechenland auf griechische Kosten. Und Anfang 1945, also noch unter Nazi-Vorzeichen, wurde im Auftrag der Reichsbank und des Auswärtigen Amtes die Höhe der - wörtlich – "Reichsverschuldung gegenüber Griechenland ... für künftigen Gebrauch” auf 476 Millionen Reichsmark berechnet. Ich habe die Denkschrift selber ausgegraben aus den Kellern des Bundesarchivs. Nach heutiger Kaufkraft sind das über fünf Milliarden Euro- ohne einen Pfennig Zinsen. Hingegen wurden die deutschen Nachkriegskredite an Griechenland eben immer sehr, sehr wacker verzinst. Wir haben also die absurde Situation, dass Exponenten des NS-Regimes den kreditären Charakter dieser Zahlungen, die deutsche Schuld gegenüber Griechenland, explizit anerkannten, dies aber von den demokratisch gewählten Regierungen der BRD, der Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches, ignoriert wird. Und solche Sachen natürlich ... Wenn dann noch diese pauschalisierende Kritik an den südländischen PIGS und an den Faulenzern, gerade von deutscher Seite, hinzukommt ... Eine Kritik, die im Prinzip verständlich ist, sowohl an den letzten griechischen Regierungen und an ihren Klientelen, aber in der derzeit praktizierten Form weder hilfreich und im Falle Deutschlands sogar kontraproduktiv ist, denn dann kommen eben diese ganzen historischen Erinnerungen hoch. Gedächtnis ist selektiv, bei den Opfern funktioniert es immer besser als bei den Nachfahren der Täter.

von Billerbeck: Ihr Fazit, Herr Dr. Fleischer, wird es zu diesen Reparationszahlungen - gerade in dieser Situation, in der sich Griechenland befindet - noch kommen?

Fleischer: Also Reparationszahlungen, ich versuche das auch griechischen Gesprächspartnern und auch Politikern klarzumachen, ist in der derzeitigen Situation völliger Humbug. Meiner Ansicht nach hätte Griechenland lange schon offiziell auf Reparationszahlungen verzichten sollen, aber mit der Bitte oder Bedingung oder wie immer sie das sagen wollen, dass die deutsche Seite sich zumindest mal auf die Verhandlungsbank setzt - an den Verhandlungstisch, um zu fragen, was passiert mit dem Kredit. Denn das deutsche Argument lautet immer, Reparationen werden von Verlierern an die Sieger bezahlt, mittlerweile sind wir nicht mehr Verlierer, sondern sind Partner und Freunde. Aber Schulden bezahlt man auch an Freunde.

von Billerbeck: Dr. Hagen Fleischer war das, der Historiker von der Universität Athen. Ich danke Ihnen!

Fleischer: Danke schön!
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