Historiker: 1989 war eine Revolution

Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch mit Jürgen König · 06.11.2009
Nach Meinung des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk hat die Wende 1989 alle Charakteristika einer Revolution getragen. Dazu zählt er einen manövrierunfähigen Staat und den Gegendruck auf der Straße.
Jürgen König: 20 Jahre Mauerfall: War das, was 1989 in der DDR passierte, eine Revolution? Ja, sagt der Historiker Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967 in Ostberlin, seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Birthler-Behörde. Ja, sagt Ilko-Sascha Kowalczuk, es war eine Revolution. Sein von der Kritik sehr gelobtes Buch "Endspiel" trägt jedenfalls den Untertitel "Die Revolution von 1989 in der DDR". Ilko-Sascha Kowalczuk wird Vormittag von 9 bis 11 Uhr ebenfalls unser Studiogast sein, dann zusammen mit der Bürgerrechtlerin der DDR, Ulrike Poppe, die heute Studienleiterin bei der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg ist. Morgen also können auch Sie dann mit den beiden Ihre Gedanken zum Mauerfall diskutieren. Unser Gespräch heute soll Ihnen dazu ein bisschen, na, sagen wir Appetit machen. Herr Kowalczuk, schön, dass Sie da sind!

Ilko-Sascha Kowalczuk: Schönen guten Tag!

König: Nehmen wir einige klassische Beispiele von erfolgreichen oder gescheiterten Revolutionen. Die Mutter aller Revolutionen möchte man meinen, 1789, in Frankreich wird der König, wird das feudale Ancien Régime gestürzt. Dann 1848, in Deutschland soll die Königs- und Fürstenherrschaft durch Demokratie, durch parlamentarische Regierung ersetzt werden. 1918, wiederum in Deutschland, der Kaiser wird gestürzt, die Monarchie ersetzt zunächst durch eine Räterepublik, dann durch eine parlamentarische Demokratie. Immer waren Stadt und Land in Aufruhr, im härtesten Falle wurden die ehemaligen Eliten guillotiniert. Wenn man damit vergleicht, was in der DDR 1989 geschah, inwiefern hatte das revolutionäre Züge?

Kowalczuk: Wenn man sich in der Literatur umschaut, wird man auf einen interessanten Umstand stoßen: Es gibt nämlich keine allseits anerkannte Revolutionsdefinition und es gibt auch keine Revolutionstheorie in diesem Sinne, auf die man sich jetzt so zurückziehen könnte. Wenn man aber historisch schaut, dann wird man immer feststellen, also Revolutionen sind so durch bestimmte Charakteristika geprägt, die alten Eliten sind verschlissen, der Staat kann nicht mehr so richtig reagieren, es gibt einen Gegendruck. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts oder bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es auch immer so, dass mit Revolution verbunden wurde, dass etwas Neues in den Blick genommen wurde, gewissermaßen so ein Stück Utopie-Überschuss, den man versuchte, in die Realität zu überführen. Im 20. Jahrhundert fängt sich das an zu verändern, wir finden eine ganze Reihe neuer Revolutionstypen, die eigentlich zum Ziel haben, das in ihrer Gesellschaft zu errichten, was es woanders bereits gibt. Erinnert sei an die antikolonialen Revolutionen, aber auch an die antikommunistischen Revolutionen, denn beide Typen haben eins zum Ziel: die Wiederherstellung oder die erstmalige Herstellung bürgerlicher Verhältnisse. Und genau das können wir 1989 in Ostmitteleuropa beobachten. Wenn man sich das Ergebnis dieses historischen Prozesses von 1989 anschaut, dann wird man feststellen können, es ging ja nicht darum, die Wände in diesem System zu tapezieren, es ging auch nicht darum, so ein paar Zwischenwände auszutauschen oder zu verrücken – das gesamte Fundament des bisherigen Systems ist restlos abgetragen worden, es blieb nichts übrig und es ist eine neue Gesellschaft und einer neuer Staat errichtet worden. Im Falle der DDR kam dann noch gesondert hinzu, dass dann durch die Wiedervereinigung das natürlich viel schneller ging. Aber ich glaube, wir haben hier wirklich gute Gründe, von einer Revolution zu sprechen. Und an eines sollte man auch erinnern: Revolutionen sind niemals in der Geschichte Angelegenheiten von Mehrheiten, es sind immer Angelegenheiten von Minderheiten, von aktiven Minderheiten – und auch das war 1989 so.

König: Dem Untergang der DDR gingen ja etliche Krisenerscheinungen voraus. In der DDR ist alles grau, nur die Flüsse sind bunt, war einer dieser vielen sarkastischen Witze, die in der DDR kursierten. Das wollte ich jetzt fragen, was Sie gerade schon eigentlich vorweg beantwortet haben: Inwieweit ging wirklich durch die gesamte Bevölkerung dieses Gefühl, ja, jetzt ist der Moment da, wo wir alle zusammen es ändern können, oder inwieweit war es eben doch in Anführungsstrichen "nur" das Wirken Einzelner, die dann alle anderen mitzogen?

Kowalczuk: Also das ist ja letztendlich die Frage nach den Ursachen dieses Zusammenbruchs dieser Revolution. Revolutionen sind niemals siegreich gegenüber starken, stabilen Systemen, da muss es schon also eine ganze Reihe von ...

König: … putschartig …

Kowalczuk: Nein, nicht unbedingt Putsch, aber es muss sozusagen bestimmte Krisen geben. Und wenn Sie sich jetzt auch die anderen von Ihnen vorhin erwähnten Revolutionen anschauen, keine dieser historischen Prozesse kann man monokausal erklären, indem man sagt, das waren die Träger, das waren die Ursachen. Wenn wir uns jetzt 1989 anschauen, dann wird man feststellen, die außenpolitischen Rahmenbedingungen haben sich entscheidend in den Jahren zuvor verändert – im Übrigen auch das, was ja ganz oft gegen die Verwendung des Revolutionsbegriffs vorgebracht wird, historisch überhaupt nicht singulär. Versuchen Sie mal, die 18er-Revolution zu erklären ohne den Ersten Weltkrieg, das funktioniert überhaupt gar nicht. Also die außenpolitischen Bedingungen haben sich verändert. Innenpolitisch haben wir seit Jahren eine tiefe Krise in der DDR erleben können, wirtschaftlich ist dieses Land am Ende, aber es ist nicht nur eine Wirtschaftskrise, es ist auch eine massive Ökologiekrise, die jedem, der damals so einigermaßen bei Sinnen war, noch gut in Erinnerung sein müsste. Es war auch eine soziale Krise, das Sozialsystem der DDR war an sein Ende gekommen. Oder schauen Sie sich an, wie die Innenstädte der DDR aussahen, die Nachkriegszeit war praktisch nicht beendet. Und das Regime konnte nicht mehr dagegensteuern. Aus einem einfachen Grund auch wurde ja behauptet, Honecker und Krenz und diese ganze Mannschaften hätten so eine Glasnost- und Perestroika-Phobie gehabt. Das stimmt natürlich nicht. Anders als Gorbatschow haben die schon sehr genau gewusst, diese Art von Kommunismus, dieses System, was sie da befehligten, war nicht reformierbar. Jeder Anschein von Reformen hätte ja gewissermaßen in einem großen Teil der Bevölkerung Hoffnung darauf geweckt, dass also nun aus den kleinen Reformen große werden. Mit anderen Worten: So einen brodelnden, geschlossenen Kessel, den kann man nicht so bisschen öffnen und dann sozusagen so ein bisschen versuchen, den Dampf, der da entweicht, zu kontrollieren. Das funktioniert nicht. Der Kessel wird sofort explodieren, also muss man den Deckel stark drauf ...

König: Solange es irgend geht, zuhalten.

Kowalczuk: Genau. Und genau das haben die gemacht. Das war natürlich auch eine historische Lehre von 1953, von 56, von 1968. Und in dieser Situation gibt es verschiedene Handlungstypen, wenn man so will. Die einen, und das ist die Masse, die hält weiter still und versucht abzuducken und irgendwie durch dieses System gewissermaßen durchzukommen. Eine Minderheit stützt weiter aktiv das System, aber auch da gibt es immer mehr Risse, weil viele in diesen Apparaten immer weniger die Sinnfrage beantworten können, weil irgendwie jeder sieht das ja, dass irgendwie alles zusammenbricht. Und dann gibt es verschiedene Menschen, die sich anfangen zu bewegen. Auf der einen Seite die Flüchtlinge, der Massenausreisestrom, Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen, aber auf einen Nenner gebracht, alle aus Freiheitsgründen anfangen sich zu bewegen, aber die sagen: Nicht mehr in diesem Land, was soll ich hier mein Leben vergeuden, ich will nur noch weg! Und die hauen ab, die hinterlassen große Lücken, viel Trauer, viele Tränen. Und man darf das nicht vergessen, überall fehlen die Leute auf einmal, die eigenen Kinder hauen ab, die eigenen Eltern hauen ab. Und so fragen sich dann im Land selbst immer mehr Menschen: Die bewegen sich weg von diesem Land, ich will aber in diesem Land mich bewegen, ich will nicht dieses Land den alten Männern dort oben überlassen, das gehört denen nämlich nicht, das gehört mir ganz genauso. Und sie fangen sich an in diesem Land zu bewegen, initiiert natürlich von der Bürgerrechtsbewegung. Die waren dann gewissermaßen diejenigen, die in dem Land die entscheidenden politischen Anstöße gaben, die ersten Aufrufe. Und dann kommt die dritte Bewegungskraft hinzu: die Massendemonstration. Da kommen dann immer mehr Menschen. Und umso stärker in der ersten Phase der Staat repressiv darauf reagiert, umso mehr Menschen verlieren ihre Angst – so'ne Systeme leben ja enorm von Angst –, überwinden ihre Angst und sagen: Jetzt bewege auch ich mich, jetzt zeige ich mich, ich will hier ein anderes System haben!

König: Gab es in der Bürgerrechtsbewegung unter den Revolutionären – bleiben wir bei diesem Begriff – Bestrebungen, selber die Ämter, hohe Partei- und Staatsämter zu übernehmen?

Kowalczuk: Diese Bestrebungen gab es nicht, zumindest nicht so putschartig. In weiten Teilen der Opposition ging man davon aus, dass das Machtmonopol der SED beseitigt werden müsse, dass es zu freien demokratischen Wahlen kommen müsse, und genau darin sah der größte Teil der Opposition seine Hauptaufgabe, nämlich die Vorbedingungen zu schaffen, dass es zu freien Wahlen kommt, dass es einen demokratischen Staat geben könnte. Sie selbst scheuten sich mit guten Gründen davor zurück, gewissermaßen genauso wenig demokratisch legitimiert die Macht nun an sich zu reißen, zu übernehmen, wie ja das diejenigen taten und gemacht haben, die sie kritisierten.

König: Man hat dann ja schnell den Begriff von der friedlichen Revolution geprägt. War das ein Versuch, diese Form der Revolution auf einen neuen Begriff zu bringen?

Kowalczuk: Das ist ganz zweifellos der Versuch, um die Kritik an dem Revolutionsbegriff für '89 so ein bisschen abzuwenden. Mir ist das viel zu defensiv. Sie erinnern sich gut daran an den Ruf "Keine Gewalt!", den die Demonstranten im Herbst 1989 massenhaft ausriefen. Das war ja keine Aufforderung an den Nebenmann und die Nebenfrau, das war eine erfahrungsgesättigte Aufforderung an das Gegenüber, nämlich an den Staat. "Keine Gewalt!", wenn man so will die kürzeste Form der Bergpredigt, war nicht nur erfahrungsgesättigt aus den Jahren und Jahrzehnten zuvor, sondern auch aus den Tagen und Wochen im Herbst 1989. Denn bis zum 9. Oktober 1989 und auch an diesem Tag außerhalb von Leipzig hat der Staat ja schon sehr massiv auf Gewalt gesetzt und hat Tausende Menschen verhaftet, Prügelorgien inszeniert und so weiter und so fort. Und insofern finde ich das auch immer ein bisschen verfehlt, von einer friedlichen Revolution zu sprechen, weil er nämlich nur auf die Demonstranten, auf die Oppositionellen, auf die Gesellschaft abhebt, die sich sehr friedlich verhalten hat, aber in diesem Begriff unterschlägt, dass der Staat in den Wochen und Monaten bis zum 9. Oktober alles andere als friedlich war. Und man darf nicht vergessen, die letzten Mauertoten des ostdeutschen Grenzregimes, die gab es nicht im Frühjahr 1989, die gab es im August 1989 an der österreichisch-ungarischen Grenze, wo ein Mann aus Versehen erschossen wurde, und im Oktober 1989, als zwei Männer in der Oder ertrunken sind, als sie versuchten, nach Polen zu kommen, um dort die bundesdeutsche Botschaft in Warschau zu erreichen und um von dort aus in die Bundesrepublik zu kommen. Das zeigt gewissermaßen noch mal dieses Gewaltpotenzial, was ja prinzipiell in diesem System drin war. Und wenn wir heute den Mauerfall mit Recht so großartig feiern oder so groß feiern, dann dürfen wir diese Opfer nicht vergessen dieses Regimes.

König: Mit dem Mauerfall brach die SED-Herrschaft relativ schnell zusammen, es wurden dann allerlei Runde Tisch installiert. Wie es dann weiterging, ist bekannt. Am 3. Oktober wurden die beiden Deutschländer wiedervereinigt, zur Freude vieler, zum Missbehagen einiger, sage ich mal, das Wort vom Anschluss machte die Runde. Wie sehen Sie das Ende dieser Revolution?

Kowalczuk: Also ich glaube, man muss festhalten, vor der Einheit war die Freiheit. Die Freiheit war selbst errungen durch die ostdeutsche Gesellschaft, durch die osteuropäischen Gesellschaften, alles begann in Polen. Insofern sehe ich da jetzt auch gar nicht so einen großen Bedarf. Im Gegenteil, ich glaube, darüber könnten sich die früheren kommunistischen Gesellschaften noch viel mehr freuen als bisher, nämlich dass es tatsächlich in einem Akt der Selbstbefreiung zur Freiheit kam. Die Herstellung der Einheit war dann schon eher das technokratische Werk von Politikern an nicht mehr runden Tischen, sondern an eckigen Tischen, wo das ausgehandelt wurde. Dass das so schnell gemacht wurde, ist viel kritisiert worden, bis zum heutigen Tage, aber man sollte zwei Dinge dabei nicht vergessen: Erstens, dass die ostdeutsche Gesellschaft weiter einen enormen Druck auf die politischen Eliten ausübte, indem sie eben dieses Tempo forderte – kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr. Und das Zweite, es gab, wie wir heute wissen – das haben damals natürlich nicht alle so übersehen können – doch nur ein relativ schmales historisches Zeitfenster, denn niemand konnte wissen, wie lange die Verhältnisse in der Sowjetunion weiterhin so stabil sein würden, und das war ja die Vorbedingung zur Herstellung der deutschen Einheit. Der Putsch in Moskau im August 1991 hat eben auch gezeigt, wie fragil das System ist. Insofern glaube ich, war das alternativlos. Weniger alternativlos war natürlich, wie tatsächlich die deutsche Einheit hergestellt worden ist. Viele Fehler sind begangen worden, viele Versprechungen sind gemacht worden, die nicht gehalten werden konnten. Aber in den letzten 20 Jahren konnten wir natürlich auch sehen, dass Menschen, die in der Unfreiheit sozialisiert waren, es natürlich auch schwer haben, wenn sie dann erst mal die Freiheit haben, in dieser Freiheit auch verantwortungsvoll selbstbestimmt ihre Angelegenheiten selbst in die Hände zu nehmen. Das fällt heute vielen Ostdeutschen immer noch schwer. Ich glaube, wir würden auf dem Weg zur europäischen und zur deutschen Einheit, zur inneren Einheit weiterkommen, wenn wir anerkennen würden – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa –, wenn wir Differenzen anerkennen würden. Ich glaube, die Anerkennung solcher Differenzen in den verschiedenen Regionen Europas und Deutschlands wäre der beste Ausdruck für die gewonnene innere Einheit Europas und Deutschlands. Es geht nämlich nicht darum, alles gewissermaßen zu nivellieren und alles gleichzumachen, das war aber, glaube ich, so ein bisschen das Problem in den letzten 20 Jahren, dass doch sozusagen der Anpassungsdruck auf Ostdeutschland, gerade der kulturelle und der mentale, viel zu hoch war.

König: Was 1989 in der DDR passierte, war eine Revolution, sagt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Morgen Vormittag ab 9 Uhr wird er wiederum unser Gast sein, gemeinsam mit Ulrike Poppe von der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg können Sie mit den beiden diskutieren bis 11 Uhr. Herr Kowalczuk, ich danke Ihnen!

Kowalczuk: Danke schön!