Historie

Zwischenbilanz aus Osteuropa

Shore schreibt "Osteuropa", doch sie meint neben Prag hauptsächlich Warschau.
Shore schreibt "Osteuropa", doch sie meint neben Prag hauptsächlich Warschau. © picture-alliance / PAP / Pawe³ Brzeziñski
Von Uwe Stolzmann · 27.03.2014
Die amerikanische Historikerin Marci Shore hat sich auf eine Reise nach Osteuropa begeben, um herauszufinden, welche Auswirkungen die totalitären Systeme auf die Menschen und ihre Beziehungen bis heute haben. Es ist ein anregendes Lesebuch geworden, doch es hat auch seine Mängel.
1993 ist sie zum ersten Mal nach Osteuropa gekommen: Marci Shore, eine 21-jährige Wissenschaftlerin aus Amerika, voller Neugier auf die Samtene Revolution und eine "Geschichte mit gutem Ende". Das gute Ende hat sie damals nicht gesehen, stattdessen ein Gespenst, das "Gespenst der Vergangenheit". Gut zwanzig Jahre und zahllose Reisen später legt die Historikerin nun eine Art Logbuch vor: "Der Geschmack von Asche", eine Zwischenbilanz ihrer Fahrten durch den Osten.
Shore, heute Professorin in Yale, entdeckte zerrüttete Gesellschaften, zum Teil traumatisiert durch die Auswüchse des 20. Jahrhunderts - Faschismus, Krieg, Holocaust, dann Stalinismus, Kommunismus, neue Repression. Sie fragte sich: Wie weit prägten die totalitären Systeme das Leben der Leute und ihre Beziehungen? Wie gehen Menschen mit Schuld um? Sie lernte, was wir schon wissen: "Der Kommunismus war keine böse Hexe, nach deren Ableben alle glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage lebten."
Genau hingehört
Im Buch sprechen Zeitzeugen aus Warschau und Vilnius, Bratislava und Budapest, Krakau, Kiew und aus der Provinz. Shore schildert Schicksale; sie porträtiert Prominente (Václav Havel, Adam Michnik, Milan Kundera), aber auch Unbekannte. Schon im Sommer 1993 begreift sie: "Der klare Gegensatz zwischen Dissidenten und Kommunisten war trügerisch. Die Dissidenz selbst hatte oft ihre Wurzeln im Kommunismus."
Die Amerikanerin hat auf ihren Reisen genau hingehört, und was sie hörte, berührt:
"Alles, was ich über den Menschen weiß, habe ich in den Lagern gelernt." (Arnošt Lustig, ein tschechisch-jüdischer Autor.)
Oder: "All das zu erleben und normal zu bleiben, das ist zu viel." (Eine alte Warschauerin.)
Oder: "Wir kannten nur unseren Feind. Und der – Hundesohn – rannte plötzlich auf und davon." (Jan Urban, Unterzeichner der "Charta 77")
Die Historikerin hat verborgene Akten gelesen, jetzt spannt sie einen weiten Bogen - von den Nazi-Lagern und KGB-Gefängnissen zu den Massakern der Neunziger in Bosnien. Sie beschreibt, wie man in den Nischen der "-ismen" überlebte. Und wie Nazigegner zu Stalinisten wurden, Opfer zu Tätern.
Wenig Analyse
In einer böhmischen Kleinstadt lernte sie Mitte der Neunziger Tschechisch, als Erstes dieses Wort: "Pravda", "Wahrheit". Und später die erste Wendung: "To není možné", "Das ist nicht möglich". Anspruch und Selbstbeschränkung - zwischen diesen Polen bewegen sich bei Marci Shore die Menschen der postkommunistischen Ära. Die Prägung, meint sie, wirkt fort.
Die Amerikanerin analysiert wenig; sie beobachtet eher. Aus Oral History, Essay und Reportage formt sie ein Lesebuch, ein anregendes Buch – allerdings mit deutlichen Mängeln: Shore erzählt Geschichten, viele Geschichten, zu viele. Sie unterhält mit Details, und verliert sich aber auch darin. Sie spricht von "Osteuropa", meint im Wesentlichen jedoch Warschau und Prag.
"Das Nachleben des Totalitarismus" wollte die Autorin beschreiben, doch sie dringt nur selten vor zur Allgegenwart des Vergangenen. Nein, ihr Versprechen, in Titel und Untertitel prägnant formuliert – Marci Shore hat es nicht eingelöst. Dennoch: Dies ist ein wichtiges Werk, es stimmt nachdenklich. Der erste simple Satz des Vorworts beschreibt schon die Essenz: "Osteuropa ist anders." Shore lehrt uns, dieses Andere ein Stück weit zu verstehen.

Marci Shore: Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf.
Verlag C.H.Beck, München 2014
376 Seiten, 26,95 Euro.