Hirnforschung und Religiosität

Das Thema Hirnforschung hat sich aus dem Elfenbeinturm Wissenschaft befreit und die Diskussionen an den Stammtischen erreicht. Warum? "Weil wir gerne wüssten, wie unsere Empfindungen und Überzeugungen entstehen und warum wir glauben, hoffen und lieben", sagt der Journalist und Publizist Andreas Malessa.
Herbert A. Gornik: Wenn Kreuzworträtsel-Lösen "Gehirn-Jogging" heißt und man Schokolade deshalb isst, weil sie den Serotonin-Spiegel im Hirn erhöht; wenn Mönche und Nonnen in den Magnet-Resonanz-Tomografen geschoben werden und sie dort bitte beten und meditieren sollen; wenn ein Suhrkamp-Sammelband wissenschaftlicher Aufsätze unter dem trockenen Titel "Hirnforschung und Willensfreiheit" in die 6. Auflage geht und ein aktuelles Buch "Die Vermessung des Glaubens" verspricht - was hat sich dann verändert in der öffentlichen Diskussion um die Religiosität des Menschen? Andreas Malessa, Sie haben sich diesbezüglich umgesehen auf der Frankfurter Buchmesse.

Andreas Malessa: Dann hat das sperrige Fach Neurophysiologie die Büroflure und Stammtische erreicht und ist zu einer Art populären Leitwissenschaft geworden. Weil wir gerne wüssten, wie unsere Empfindungen und Überzeugungen entstehen und warum wir glauben, hoffen und lieben. Und weil wir nun mal den materialen Prozessen, den elektrochemisch und molekularbiologisch messbaren Vorgängen in unserem Körper mehr Realitätswert zutrauen als den nicht-materialen, den geistigen und emotionalen Vorgängen in uns, deshalb suchen wir bei den Hirnforschern zuerst eine Antwort auf die Frage, wie aus bloßer Zellmaterie ein Bewusstsein entsteht und ob der Glaube an Gott zum Beispiel eventuell doch neurophysiologisch erklärt werden könne.

Das laienverständlich Beste und in der aufgeheizten Diskussion Sachlichste dazu hat der ehemalige Wissenschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung, Martin Urban, geschrieben: "Warum der Mensch glaubt. Von der Suche nach dem Sinn."

Gornik: Aber ist Religiosität nicht tatsächlich neurophysiologisch erklärbar? Oder muss der Glaube nicht sogar irgendwie und irgendwann mal "nachweisbar" werden ?

Malessa: Ich meine: Nein. Auch wenn US-Molekularbiologe Dean Hamer behauptet, er habe die Neigung zu Religiosität in einer Variante des Gens VMAT 2 lokalisiert und die sei erblich. Nein, die vermeintliche Plausibilität der Hirnforschung - der Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut hier in Frankfurt, Wolf Singer, und der Biologieprofessor Gerhard Roth aus Bremen reiten diese Masche seit Jahren - ihre populäre Überzeugungskraft also verdankt die Hirnforschung zunächst nur der schönen bunten Darstellbarkeit ihrer Ergebnisse.

Wenn im Magnetresonanztomografen oder im Positronen-Emissions-Tomografen eine bestimmte Gehirn-Region aufleuchtet, während der Mönch in der Röhre betet, dann sagt die Färbung auf dem Bildschirm nur aus, dass die Neuronen an dieser Stelle momentan viel Sauerstoff verbrauchen. Ob sie das tun, weil der Mönch gerade zu Gott betet oder weil er an ein finanzielles Problem denkt oder vom Sex mit der Laborassistentin träumt - darüber sagen die Mess-Instrumente gar nichts aus, kurz: Gedanken lesen können sie nicht.

Hinzu kommt, worauf der amerikanische Psychopathologe Richard Davidson schon seit 1992 hinweist: Ursache und Wirkung der dokumentierten Phänomene stehen in Wechselwirkung zueinander. Erzeugt unser Hirn - aus evolutionärer Überlebensnotwendigkeit - die Hoffnung, das Glücksgefühl, das Mitgefühl, die Liebe, das Vertrauen selbst? Oder wird es erst durch Hoffen, Glücklichsein, Mitfühlen und Lieben, durch eine mentale Disziplin, durch willentliches Meditieren und Konzentrieren auf diese Empfindungen konditioniert?

Davidson ist übrigens gut mit dem Dalai Lama befreundet und den würde letzteres nicht wundern. Der Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen hat die Bilderverliebtheit der Hirnforscher so kommentiert: "Wenn ich eine nächtliche Stadt fotografiere, dann leuchten manche Stadtteile heller als andere, dann gibt es strahlende Fenster und dunkle. Was jedoch hinter diesen Fenstern getan und gesagt wird, zeigt mein Foto nicht. Und, oh weh, das spannendste passiert wahrscheinlich gerade hinter den Fenstern, die dunkel sind."

Gornik: Weniger witzig fanden es viele - nicht nur christlich orientierte - Menschen, als im Herbst vor vier Jahren in der Zeitschrift "Gehirn und Geist" elf namhafte deutsche Hirnforscher ein sogenanntes "Manifest" veröffentlichten, in dem nicht weniger als ein "neues Menschenbild" angekündigt wurde. "Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen" hieß ein begleitender Aufsatz von Wolf Singer.

Malessa: Meiner Meinung nach werden da zwei Experimente überstrapaziert: Die des US-Hirnforschers Benjamin Libet 1985, der nachweisen konnte, dass der Entschluss einer Testperson, mit dem Finger auf eine Taste zu drücken, in hundertstel Sekunden vorher vom Gehirn vorbereitet war. Und es werden fehl-interpretiert die Experimente des Berliner Hirnforschers John-Dylan Haynes, der in diesem Frühjahr, 2008, bei 60 Prozent seiner Testpersonen nachweisen konnte, dass das Gehirn schon sieben Sekunden vorher den Prozess einleitet, ob der Knopf mit der rechten oder der linken Hand gedrückt wird. Aber weder Libet noch Haynes gehen so weit, deshalb bereits den freien Willen und damit die ethische Verantwortlichkeit des Menschen in die Tonne zu treten.

Überlegen Sie die Konsequenzen: Sie und ich und alle 80 Millionen Deutschen könnten bei Bankraub oder Vergewaltigung Paragraf 20 unseres Strafgesetzbuches in Anspruch nehmen, der "Straf-Ausschluß bei Geisteskrankheit" zugesteht, denn wenn ich determiniert und vorprogrammiert, also nicht aus freiem und eigenem Entschluss, gemordet und gemetzelt habe, dann könnt Ihr mich auch für nix haftbar machen?!

Der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel versucht übrigens diese gedankliche Grätsche in seinem Buch "Willensfreiheit und rechtliche Schuld": Der Mensch hat keinen freien Willen, sollte aber trotzdem strafrechtlich verantwortlich gemacht werden, findet er. "Freien Willen" im physikalischen oder biologistischen Sinne mag es tatsächlich nicht geben.

Aber innerhalb dieser Gesetzmäßigkeiten habe ich sehr wohl enorme Entscheidungsspielräume, die mich a) vom Tier unterscheiden, b) ethisch haftbar machen, weil ich c) der Adressat einer über-menschlichen, einer metaphysischen, einer göttlichen Zuwendung und Liebe bin, die mich zu mir selbst und zur Welt befreit. Meint jedenfalls der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff in seinem Buch "Theologie der Freiheit".

Gornik: Wenn morgen die Hirnforschung den Grund Ihrer Religiosität lokalisieren und Ihre Willensentscheidung für oder gegen den Glauben elektrochemisch nachzeichnen könnte – was wäre Ihr Kommentar ?

Malessa: Mein Kommentar wäre : Die Evidenz, die Tatsächlichkeit, der Erfahrung eines liebenden, barmherzigen Gottes mitten in einer lieblos-unbarmherzigen Welt ist völlig paradox, das stimmt. Und genauso wenig beweisbar oder widerlegbar wie die Erfahrung vorbehaltloser Liebe. Aber: Wenn unser Tontechniker hier im Ü-Wagen die Lautstärke und den Frequenzverlauf der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach exakt misst und dokumentiert, dann hat er uns damit noch nichts über die Wucht und Wirkung, über die inhaltliche Aussage und die künstlerisch-formale Schönheit dieses Werks mitgeteilt.

Die sind aber doch mindestens ebenso "real" wie die Schallwellen in der Luft über dem Orchester, oder? Und was die Freiheit meiner Glaubensentscheidung angeht: Sogar der provokante Professor Wolf Singer hat mal gesagt: "Natürlich mache ich meine Kinder zu Hause für den Blödsinn verantwortlich, den sie wieder angestellt haben, weil ich davon ausgehe, dass sie auch anders hätten handeln können."

Gornik: Vielen Dank für das Gespräch.