Hirn will Nachschub

30.03.2011
Trotz des reißerischen Untertitels gibt das Buch keine simplen Diättipps. Peters bietet einen hochkomplexen Einblick in die menschliche Biochemie - persönlich, engagiert und mit dem Talent begabt, aus Laborergebnissen wunderbare Alltagsmetaphern zu stricken.
Wissenschaftliche Forschung an der Heimatfront. Im Kriegswinter 1916/17 untersucht eine junge Pathologin in Jena die Opfer von Unterernährung. Während die inneren Organe der Verstorbenen bis zu 40 Prozent geschrumpft sind, wiegen ihre Gehirne gerade einmal zwei Prozent weniger. Es ist der erste Baustein einer Erkenntnis, die mittlerweile in vielen Studien erhärtet wurde: Obwohl das Hirn nur einen kleinen Teil des Körpers ausmacht, fordert es die Hälfte der täglichen Glukose, bei Stress sogar 90 Prozent. Dabei entzieht es den anderen Organen aktiv die Zuckerzufuhr. Das sei auch sinnvoll, erklärt der deutsche Hirnforscher und Internist Achim Peters, schließlich laufe ohne ein funktionierendes Gehirn auch im Rest des Körpers nicht mehr viel. In seinem neuen Buch "Das egoistische Gehirn" zeichnet er ein umfassendes Bild der "Selfish Brain Theorie" und ihrer Implikationen.

Und wie der Untertitel "Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft" schon deutlich macht, interessieren den Autor vor allem die Störungen der Hirn-Körper-Wechselwirkung. Neben organischen Komplikationen ist vor allem der epidemische Stress unserer modernen Lebensweise häufig dafür verantwortlich, dass die Glukose im Körper steckenbleibt, anstatt das Gehirn zu versorgen. Infolgedessen "bestellt" das Gehirn immer weiteren Nachschub - und der betroffene Mensch führt sich zu viel Nahrung zu. Häufig ist das Geschehen mit Stimmungstiefs bis hin zu Depressionen verbunden. Wer sich mit Alkohol oder überreichlichem Medienkonsum aus der emotionalen Patsche zu helfen versucht, befeuert den Teufelskreis aus Kalorienzufuhr, mangelnder Bewegung, schlechter Stimmung und gestörter Hirn-Körper-Kommunikation nur noch weiter. Übergewicht oder gar Diabetes sind die Folge, so Peters.

Trotz des etwas reißerischen Untertitels gibt das Buch keine simplen Diättipps. Achim Peters und sein Co-Autor Sebastian Junge bieten einen hochkomplexen Einblick in die menschliche Biochemie. Wer nicht vom Fach ist, muss sich beim Lesen schon viel Zeit nehmen, um zwischen "Brain-Pull", "Body-Pull", "Food Cues" und "Global Silencing" nicht die Orientierung zu verlieren. Zum Glück steuert der Stil dagegen: persönlich, engagiert und mit dem Talent begabt, aus komplizierten Laborergebnissen wunderbare Alltagsmetaphern zu stricken. Und auf einmal findet man sich beim Blumengießen auf dem Balkon wieder oder in kühlen Museumsräumen.

Welche Folgerungen ergeben sich aus der Theorie vom egoistischen Gehirn? Im Schlussteil des Buches erteilt der Autor kalorienreduzierten Diäten eine deutliche Absage. Übergewichtige müssen lernen, ihre Gefühle wieder zu spüren und auf sie zu hören; nicht ganz einfach. Kinder sollten mit vielfältigen Nahrungsmitteln in Berührung kommen und sich bewegen, sicherlich. Am wichtigsten aber sei es, ihnen Kindheit zu schenken, betont Achim Peters: Spielen, Ruhe, liebevolle Beziehungen. Nur was die Psyche stark macht, schützt auch die fein getunten Balancen im Inneren des Körpers.

Besprochen von Susanne Billig

Achim Peters: Das egoistische Gehirn. Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft
Ullstein Verlag, Berlin 2011
336 Seiten, 19,99 Euro