Hippie-Detektiv mit bleibenden Grundwerten

17.09.2010
Thomas Pynchon gilt als einer der großen amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Ab heute ist sein Roman "Natürliche Mängel" auch in der deutschen Übersetzung erhältlich. Darin kämpft Hippie-Detektiv "Doc" gegen das "System".
"Natürliche Mängel", Thomas Pynchons siebter Roman, trägt unverkennbar die Handschrift seines Autors, unterscheidet sich aber auch deutlich von den Vorgängern: "Die Enden der Parabel", "Mason & Dixon" und "Gegen den Tag" hatten in weltumspannender Perspektive die Verflechtung von Technologie, Wissenschaft und Kapital (samt ihrer ambivalenten Zukunftsfantasien) durch die Jahrhunderte verfolgt. Mit "Natürliche Mängel" beschränkt sich der Autor hingegen auf Lokales: auf Los Angeles in den 1960-er und frühen 1970-er Jahren. Und erinnert darin an "Die Versteigerung von No. 49", seinen Kultroman von 1966, der in mysteriöser Allegorisierung die Möglichkeit eines radikalen Umbruchs anzudeuten schien, oder auch an "Vineland" (aus dem Jahre 1990), worin Pynchon den Ausverkauf eben dieser Träume zum Gegenstand machte.

In "Natürliche Mängel" ist jene Zeit virulenter Paranoia, des Vietnamkriegs, der Nixon-Regierung, der Charles Manson-Morde zwar erzählte Gegenwart, aber längst vergangene Geschichte: Die kleine Welt paranoider, wenn auch munter kiffender und vögelnder Hippies ist nur Enklave in einem System, in dem Korruption alle Teile der Gesellschaft erfasst hat und das den Blick auf eine andere Wirklichkeit höchstens als eskapistische Fantasie zulässt.

Dennoch ist dieser Roman mit Lust erzählt: Pynchon parodiert die Konventionen des amerikanischen Detektivromans samt seiner zahlreichen Filmvarianten. Er führt dabei den Leser durch die Popkultur jener Epoche, durch ihr reiches Repertoire an Songs, Comics, Filmen und TV-Serien. Häufig vermischen sich die literarischen Handlungsstränge mit denen von Kino- und Fernsehfilmen, wie auch mit Hasch- und LSD-induzierten Halluzinationen.

Held des Buches ist der unentwegt kiffende Hippie-Detektiv Larry Sportello ("Doc"), der Ausgestiegene und Ausgestoßene vertritt und meist unentgeltlich ihre Sache gegen die Übermacht des Los Angeles Police Department, sowie die Interessen des Establishments verficht. Wie Raymond Chandlers ritterlicher Philip Marlowe ist "Doc" eine ehrliche Haut. Trotz drogengeschädigten Erinnerungsvermögens behält er den Überblick im wild wuchernden Handlungsgefüge und schlägt dem "System" insofern ein Schnippchen, als er dessen "goldenen Fängen" ein bereits sicher geglaubtes Opfer entreißt und eine zerstörte Familie wieder zusammenführt.

In einer Welt paranoider Ängste vor neofaschistischen Totschlägern, schamlosen Finanz- und Bodenspekulanten, vor Spitzeln, Zuhältern, Drogendealern und brutaler Polizeigewalt, sind "Docs" Werte die einzig noch bleibenden: Vertrauen wider besseren Wissens, Loyalität gegenüber Freunden, verlässliches Handeln bei stoischer Zurkenntnisnahme "natürlicher Mängel".

Sie geben dem Buch einen vagen optimistischen Grundton, der sich nicht nur Pynchons Freude am virtuosen Erzählen verdankt. Nikolaus Stingl hat diese stilistische tour de force kongenial ins Deutsche übersetzt und die Untiefen des Hippie-Idioms, der opaken Abkürzungen und der unvermeidlichen Songs bravourös gemeistert.


Besprochen von Heinz Ickstadt

Thomas Pynchon: "Natürliche Mängel"
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010
477 Seiten, 24,95 EUR