Hinweg über die Grenzen des Genres

Von Elena Gorgis · 20.01.2012
Bereits zum 14. Mal findet in diesem Jahr in Berlin das "Ultraschall"-Festival statt. Zur Eröffnung in der Parochialkirche wird eine Komposition des kanadischen Komponisten Claude Vivier aufgeführt - ein gutes Beispiel für die Auflösung von Genregrenzen, die das gesamte Festival bestimmen wird.
Die Scheinwerfer gehen an und erleuchten das backsteinerne Gewölbe der Parochialkirche in Berlin-Mitte. Olaf Katzer räumt die letzten Stühle aus dem Altarraum. Der Dirigent hat seit Weihnachten täglich 14 Stunden die Partitur des Stückes "Musik für das Ende" des kanadischen Komponisten Claude Vivier überarbeitet. In wenigen Minuten findet die Generalprobe mit dem RIAS-Kammerchor statt.

37 Billionen Möglichkeiten, sein Stück aufzuführen, hat der Komponist in der Partitur angelegt. Olaf Katzer musste diese Möglichkeiten einstampfen, damit "Musik für das Ende" überhaupt aufgeführt werden kann.

Ja, die Originalpartitur ist ein System mit Vorgaben in drei Parametern: Das ist die Tonhöhe, das Wort und der Rhythmus. Und Vivier hat jetzt immer geschrieben, wann welche Stimme dieses Parameter mit der anderen Stimme tauscht - und da gibt es mehrere Möglichkeiten, eben durch ein Signalinstrument einer Person, durch ein Handzeichen oder einfach so.

Der Spezialist für Neue Musik Olaf Katzer hat das "System an Möglichkeiten" in gewöhnliche Notenschrift umgewandelt. Beauftragt wurde er vom Chefdirigenten des RIAS-Kammerchors, Hans-Christoph Rademann, der die Uraufführung zusammen mit Olaf Katzer leiten wird. Auf die Frage, ob das Publikum so eine komplizierte Partitur überhaupt verstehen kann, antwortet der Chefdirigent:

"Das wird auf jeden Fall wie bei jedem modernen Kunstwerk so sein, dass der Hörer, der gleich alles verstehen möchte, scheitert."

Die 20 Sänger treffen in der Parochialkirche ein. Um Punkt 16 Uhr beginnt die Probe. Doch der Chor stellt sich nicht im Altarraum vor den Kirchenbänken auf, wie man es vielleicht bei einem Konzert erwarten würde, sondern hinten im Eingang der Kirche. Ein Sänger nach dem anderen wandert kreuz und quer durch die Gänge nach vorne, jeder singt dabei eine andere Melodie.

"Musik für das Ende" von Claude Vivier bricht die Grenze auf zwischen konzertanter Aufführung und Musiktheater. Der Zuhörer kann mit den Augen verfolgen, wie sich die Sänger auf ihren Wegen durch den Kirchenraum zusammenfinden und wieder auseinanderbewegen. Wie sie sich auf einen Grundton einschwingen und doch individuell bleiben.

Die komplizierte Partitur erschließt sich so ganz unmittelbar. Sie wirkt leicht und natürlich. Der Klang in dem großen Gewölbe zieht einen sofort in den Bann. Für die Sänger vom RIAS-Kammerchor ist "Musik für das Ende" von Claude Vivier allerdings nicht leicht, sondern eine besondere Herausforderung. Sie müssen viele Bewegungen gleichzeitig machen und dem Publikum während der Aufführung sogar erzählen, was die schönsten Momente ihres Lebens waren. Die Sängerin Stephanie Petitlaurent stört das aber nicht.

"Das finde ich eben auch toll, dass es eben nicht nur moderne Musik ist, wo man denkt, ja das ist jetzt schief und krumm und laut oder man zieht sich nackt aus oder irgendwie so was, sondern es hat wirklich 'ne Linie, und ich glaub wir könnten trotzdem noch ne Woche mehr üben, weil man jeden Tag was Neues entdeckt, wo man wieder dran arbeiten kann, aber ich freu mich auf morgen."


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