"Hinterbliebene ihrer selbst"

06.12.2012
Alle 86 Passagiere überlebten die Entführung der Lufthansamaschine "Landshut" im Jahr 1977. Sie erhielten Orden für ihr Martyrium, aber Verständnis für spätere psychische und körperliche Leiden zeigten weder Familien noch Gesellschaft.
Die spanische Mittelmeerinsel Mallorca war auch vor fünfunddreißig Jahren schon ein beliebtes Reiseziel für deutsche Touristen. Gute zwei Stunden Flug lagen zwischen Sonne, Strand, Palmen und bundesdeutschem Alltag. Für die 86 Passagiere, die die Lufthansamaschine "Landshut" am 13. Oktober 1977 von Palma nach Frankfurt bringen sollte, dauerte die Rückreise in den Alltag jedoch sechs Tage.

Und viele von ihnen brauchten Jahre, um überhaupt wieder anzukommen. Von diesem Prozess erzählt nun ein Buch des Journalisten Martin Rupps: "Die Überlebenden von Mogadischu". Rupps verfolgt die Spuren derjenigen, die in dem Flugzeug saßen, das von palästinensischen Terroristen entführt - und fünf Tage später von einer deutschen Antiterroreinheit auf dem Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadischu gestürmt worden war.

Die Befreiung der Geiseln durch die GSG 9 gilt als bundesdeutscher Erfolgsmythos.
Fast alle Terroristen kamen ums Leben, unter den Passagieren gab es beim Sturm auf die Maschine Verletzte, aber keine Toten. Als die Nachricht der geglückten Aktion Deutschland erreichte, brach kollektiver Jubel aus - für Rupps vergleichbar mit dem von 1955, bei Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, und 1963, nach der Rettung verschütteter Bergleute in Lengede.

Sein Buch aber macht deutlich: Mogadischu war nicht der Ausgangspunkt für eine glückliche Heimkehrer-Saga, sondern für die große Anzahl der Betroffenen bloß Zwischenstopp in einem sich festigenden Trauma. Das umfangreiche Material - TV-und Hörfunkbeiträge, Presseartikel, Gespräche mit Geiseln und Psychologen - zeigt, wie verständnislos Gesellschaft und Regierung auf die seelischen Verletzungen derjenigen reagierten, die fünf Tage in Todesangst verbracht hatten: Abgeschnitten von der Außenwelt, zeitweise ohne Wasser, bei 50 Grad Außentemperatur, unter entwürdigenden hygienischen Verhältnissen.

Das "posttraumatische Stresssyndrom" war damals in der Bundesrepublik nicht bekannt - und konnte dementsprechend nicht diagnostiziert werden. Ehen zerbrachen, Identitäten veränderten sich, körperliche Beschwerden traten auf, es kam zu Arbeitsunfähigkeit und sozialer Auffälligkeit: "Die befreiten Geiseln waren Hinterbliebene ihrer selbst. Sie kamen lebend aus der "Landshut" heraus, aber sie ließen dort ihr Leben vor der Entführung zurück. Ihre psychischen Verletzungen wurden weder in ihren Familien, noch von offizieller Seite adäquat wahrgenommen. Die verantwortlichen Politiker gehörten der Kriegsgeneration an: Sie beschenkten die Befreiten mit Orden und Fahrrädern, statt Empathie zu zeigen.

Martin Rupps ruft die Ereignisse des Jahres 1977 jetzt in Erinnerung, um das Leben der Geiseln bis heute zu verfolgen. Sie stehen im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Der Autor nimmt keine Schuldzuweisungen vor. Er führt dem Leser unterschiedliche Perspektiven vor Augen, verarbeitet das gut recherchierte Material zu einer Collage, die persönliches Schicksal, Politik und Zeitläufe erhellend miteinander verbindet. Ein notwendiges Buch zum Verständnis bundesrepublikanischer Geschichte.

Besprochen von Carsten Hueck

Martin Rupps: "Die Überlebenden von Mogadischu"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
341 Seiten, 17,90 Euro
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