Hinter Gittern

Von Sonja Heizmann · 09.08.2009
In den ersten Lebensjahren ist die Mutter für Kinder unentbehrlich - auch, wenn sie sich strafbar gemacht hat und im Gefängnis sitzt. Das Strafvollzugsgesetz trägt dem Rechnung: Eine Verurteilung und Inhaftierung der Mutter bedeutet nicht deren Erziehungsunfähigkeit. Deswegen dürfen Kinder bis zum dritten Lebensjahr mit ihren Müttern im Strafvollzug leben.
Sie wohnen mit ihren Müttern in einer Zelle, hinter Gittern und schweren Türen mit Metallbeschlägen. Neben dem Bett der Mutter stehen Kinderstuhl, Kinderbett und Wickeltisch. Außerdem gibt es einen Aufenthaltsraum, der einer Kindertagesstätte ähnelt. Es gibt Spielzeug und der Blick aus dem Fenster ist meist nicht durch Gitterstäbe verstellt.

Leiterin Mutter-Kind-Einrichtung: "Ein Vorteil ist auf jeden Fall, dass die Mutter zusammen mit ihrem Kind sein kann, dass die Mutter das Kind aufwachsen sieht, und auch den Umgang mit dem Kind kennen lernt."

Eine Inhaftierte: "Die Kleine bringt mir jetzt halt wieder Glück. Gerade hier drinnen. Ich halt sie oft im Arm, gebe ihr Wärme. Das ist für mich hier drinnen schon wertvoll."

Eine Inhaftierte: "Was ist meine größte Sehnsucht? Einfach mal ein bisschen raus, vielleicht mit dem Kinderwagen spazieren, Laufen, ja, das schon, das auf alle Fälle."

Sechs Uhr morgens. Sandra Stadler läuft einen u-förmigen Gang entlang. An den Wänden: Blumen, Bäume, Schmetterlinge aus Papier. Auf dem Boden blau-grau gesprenkeltes Linoleum. Alles erinnert an einen Kindergarten. Wären nicht die massiven Stahltüren, der Metallring mit den acht großen Schlüsseln in Stadlers Hand. Sie geht von Tür zu Tür. Schließt auf, schaut kurz hinein.

Sandra Stadler: "Also wir sind verpflichtet morgens beim Aufschluss eine Lebendkontrolle durchzuführen. Wir schauen, ob die Mutter bzw. der Gefangene wohl auf ist, sich bewegt oder Guten Morgen wiedergibt. So können wir uns vergewissern, dass der Strafgefangene die Nacht gut überstanden hat."

Stadler ist keine Vollzugsbeamtin, sondern Erzieherin. Trägt nicht Uniform, sondern Jeans und Strickjacke. In der Mutter-Kind-Abteilung der Justizvollzugsanstalt Aichach ist alles ein bisschen anders. Bunter. Lauter. Hier sitzen zehn Mütter gemeinsam mit ihren Kindern ein. Die Frauen wegen Betrug, Diebstahl, Körperverletzung, Drogenhandel, Mord; die Kinder, weil sie ihre Mütter nicht entbehren sollen.
"Morgen.
Die rührt sich."

Kaum aufgestanden, geht das Tagesprogramm los.

"So, Leon, Popo hoch …"

Für Franka Nickel heißt das heute: Sohn Leon wickeln. Dann Frühstückdienst. Milch und Obst aus der Küche im Haupthaus holen. Dann zur Arbeit in die Schneiderei. Ohne Leon. Leon ist Frankas zweites Kind. Sechs Monate alt, kann noch nicht sitzen, nicht krabbeln, nicht sprechen, nur ab und zu seine Mutter anlächeln.

Franka: "Mittlerweile habe ich mich zwar dran gewöhnt, aber wo er noch sehr klein war, acht Wochen, war schon schwierig für mich ihn da zu lassen. Weil er für mich einfach noch zu klein ist, war schon schwer."

"Jetzt bist Du wieder sauber, gell?"

An der Zellentür steht Stadler mit einer anderen Mutter, die jetzt Leon versorgt.

"Gell, Leon. Du gehst zur Anne.
So."

Leons Mutter läuft mit schlapp herunterhängenden Schultern hinter der Erzieherin her. Ihr schmales Gesicht von langem welligem Haar gerahmt. Die Spitzen ausgetrocknet, die rote Färbung fast ausgewaschen. Durch weiße Gänge mit Neonlicht. Mit dem Fahrstuhl hinauf in den ersten Stock des Haupthauses. Hier sitzen mehr als 500 Häftlinge auf drei Stockwerken ihre Strafe ab. Frauen ohne Kinder, Schwangere und Mütter, die ihren Nachwuchs draußen lassen mussten. Hinein in die Hauptküche. Zwischen hellen Kacheln und glänzenden Stahlplatten Frauen in weißen Kitteln und Hauben. Direkt am Eingang: zwei Plastikeimer mit Milch und Obst. Franka greift danach.

Franka: "Das ist immer dienstags und donnerstags, für die stillenden Mütter jeden Tag. Da wird das eben ausgeteilt. Jeder bekommt einen halben Liter und eine Orange. Oder je nach dem, manchmal Banane, Apfel, das ist immer unterschiedlich."

Nur wenige Frauen in der Mutter-Kind Abteilung stillen. Die einen rauchen. Andere, wie Franka, haben keine Muttermilch. Acht Wochen nach der Geburt war der Mutterschutz zu Ende. Sie musste wieder arbeiten. Sechs Stunden am Tag. Im dritten Monat blieb die Milch aus.

In der Küche der Mutter-Kind-Abteilung stehen die Frauen mit ihren Kindern bereits für Obst und Milch an. Sonst gibt es nur Brot, Margarine, Marmelade, Kaffee. Im Raum – ein langer Tisch, Stühle, eine Bank, Einbauschränke – alles aus Holz. Vor dem Tisch hat sich eine Schlange gebildet. In der Schlange Leon auf dem Arm seiner Ersatzmutter. Franka steht auf der anderen Seite des Tisches. Gießt mit einer Kelle Milch in große Messbecher.

"Hast Du Dein Obst schon genommen?"

Langsam schlurfen Mütter und Kinder die Gänge entlang. Zurück zu ihren Zellen. Grund zur Eile gibt es für die meisten nicht. Nur Franka muss gleich zur Schneiderei. Eigentlich sind alle Frauen zur Arbeit verpflichtet, aber im Moment gibt es nicht genug Jobs. Für 15 Minuten bekommt Franka Leon noch mal von der anderen Mutter zum Spielen.

"Komm mal her, komm mal her.
Hui.
Tun wir fliegen, tun wir fliegen.
Ja. Fliegen …"

Franka schwingt Leon durch ihren Haftraum. Von der Tür zum Fenster. Der Schlauch ist nicht länger als fünf Meter, höchstens zwei Meter breit. Im Frauenhaus sind die Gefangenen zu zweit in solchen Räumen untergebracht. Wer ein Kind hat, ist gut dran in Aichach. Vielleicht ein Grund, warum so viele Frauen schwanger ihre Haftstrafe antreten oder vom Ausgang mit einem Kind im Bauch zurückkommen. Franka hat nicht nur eine eigene Zelle, sondern auch ein Kinderzimmer für Leon und ein separates Bad. Insgesamt: 20 Quadratmeter. Eingerichtet mit Möbeln aus hellem Holz. An den Wänden Fotos und Postkarten. Im Kinderzimmer baumeln Vögel, Enten, Schafe von der Decke.
Franka: "Also ich hab’ hier ein paar Sachen dazu gebastelt, dass es ein bisschen bunter ist, kindgerecht eben. Dass er etwas zu schauen hat. Finde ich auch ganz wichtig, nicht dass es jetzt so kahl ist. Für ein Kind ist es schon schöner."

Durch das vergitterte Fenster fallen die ersten Sonnenstrahlen auf die gelben Vorhänge. Hinter der Scheibe der Hof mit zwei Babyschaukeln, einer Rutsche, Wipppferdchen und einem traurig drein schauenden Messing Clown. Am Rand Metallbänke, ein großer Bottich mit Zigarettenkippen. Mauern. Mit Stacheldraht bewehrt. Das ist alles, was Leon von der Welt da draußen sieht.

Franka: "Dieser Gedanke, dass er hier auf die Welt gekommen ist und mit mir hier lebt, das ist nicht so toll. Ich bin zwar froh, dass ich mit ihm hier sein kann, weil schlimmer wäre es, wenn er draußen ist und mich nicht kennt, also seine eigene Mutter nicht kennt, aber es ist auch schwierig, weil ich mir überlege, was ist später. Der wird mich ja auch irgendwann mal fragen: Mami, haben wir mal in Aichach gelebt? Oder warum bin ich da geboren worden? Und wenn ich ihm dann sagen muss, wir waren im Gefängnis, Du bist im Gefängnis geboren worden, das ist schon ein schlechter Nachgeschmack."

Die 32-Jährige sitzt auf ihrem Bett. Die langen Beine fest aneinandergepresst. Den Oberkörper leicht gekrümmt. Die Hände im Schoß. Seinen Vater sieht Leon nur während der Besuchszeit. Zwei Stunden im Monat. Dann sitzen Vater, Mutter, Kind an einem der neun Tische im Besucherraum. Erzählen und spielen. Eigentlich könnte sein Vater Leon auch mit rausnehmen. Kinder sind keine Häftlinge. Aber das will Franka nicht.

Franka: "Ich möchte das momentan noch nicht, dass der Vater ihn abholt, aus dem Grund, es ist sein erstes Kind. Er hat ja in dem Sinne keine Ahnung von Kindern und ich möchte jetzt erst mal sehen wie er mit ihm klar kommt, weil er doch noch recht klein ist. Hier ist das was anderes, wenn er bei fremden Menschen ist, die kennen sich aus mit Kindern. Ich möchte das noch nicht, ich glaube, ich hätte keine ruhige Minute."

Leon rausgeben ist noch aus einem anderen Grund schwer für Franka. Sie hat bereits 2001 für Drogenhandel eingesessen. In dieser Zeit verlor sie den Kontakt zu ihrem ersten Kind. Als sie entlassen wurde, fing sie an Heroin zu nehmen und wurde wieder straffällig. Ihre Tochter ist heute 10 Jahre alt und lebt bei Pflegeeltern.

Franka: "Jetzt ist sie schon so lange dort und egal wie ich mich entscheide, ob ich jetzt vorhabe sie wieder zu mir zu nehmen oder sie jetzt dort lasse, egal welche Entscheidung, sie ist immer falsch. Sie kennt mich ja in dem Sinne nicht. Sie weiß zwar ich bin ihre Mutter, aber mehr weiß sie auch nicht. Ist schon schwierig."

Franka schaut hilflos auf die Wand neben sich. Auf einem Foto ihre Tochter. Blond und strahlend. Eigentlich wollte Franka kein Kind mehr, aber nach der Drogentherapie lernte sie ihren jetzigen Mann kenne, wünschte sich wieder eine Familie. Dass Leon die ersten Monate seines Lebens im Gefängnis verbringt, hat sie in Kauf genommen als sie ihre zweite Haftstrafe antrat.

"Schau mal, nimm’s mal in die Hand."
6:40 Uhr. Jetzt muss Franka zur Arbeit und Leon in die Kindergruppe. Die Gefangene nimmt ihr Kind auf den Arm, drückt ihm eine rote Rassel in die Hand. Greift nach einer Jutetasche mit Leons Flasche und Kuscheldecke und macht sich auf den Weg zum Spielzimmer.

"Hallo.
Morgen."

Zum Abschied drückt Franka ihren Sohn an sich. Leons wenige Haare stehen zu Berge. Seine großen blauen Augen füllen sich mit Tränen. Er meckert, schreit. Aber seine Mutter muss jetzt los zur Schneiderei. Muss Leon den Erzieherinnen überlassen.

Erzieherin: "Jetzt ist gut."
"Schau. Schau."

Um Leon herum krabbeln, hüpfen, robben andere Kleinkinder. Auf einer Decke liegt ein Säugling. Über ihm ein Gestell mit Glöckchen und Spiegeln. Ein dunkelhaariges Mädchen mit Goldohrringen kaut auf einem Plastikwürstchen. Eine Mutter zieht ein Bilderbuch aus dem Regal.

"Und was ist des?
Betti.
Ja, zum Bettigehen. Schlafanzug."

Im Spielzimmer sieht es aus wie in jeder Kindertagesstätte. Überall verteilt: Autos, Rasseln, Bälle. An den bodentiefen Fenstern kleben selbst gebastelte Tulpen, Hasen und Wolken. Gitterstäbe gibt es nicht. Morgens und nachmittags müssen sich Mütter, die noch im Mutterschutz sind oder keine Arbeit haben im Spielzimmer aufhalten. Dazwischen: Mittagessen und zwei Stunden Einschluss. Das Kind immer dabei. 24 Stunden am Tag. Auf einem Stuhl sitzt Stadler -- Mittelscheitel, ungeschminkt, die kräftigen Arme auf den Tisch vor sich gestützt.

Sandra Stadler: "Die müssen mit den Kindern runterkommen. Die Idee dahinter – einfach eine gewisse Kontrolle darüber zu haben, ist das Kind wohlauf, ist das Kind gepflegt, wird es angezogen. Unter anderem ist es die Zeit, wo sich die Mütter aktiv mit den Kindern auseinandersetzen können, d. h. sie haben Spielmöglichkeiten, Bastelmöglichkeiten, sie können in den Garten rausgehen und natürlich Fragen und Anleitungen bei uns holen."

Heute gibt es keine Anleitungen, kein Programm. Stadler und die Erzieherinnen sitzen an einem Ende des Raumes, die Mütter am anderen. Drei Frauen fläzen in den Ecken auf dicken Kissen. Andere spielen Karten. Skippo für Kinder ab sieben Jahren.

"Ey Marlen, was machste?
Ich spiel .. .zwei, drei, vier ..."

Zwei Frauen hocken auf dem Fenstersims neben den Erzieherinnen. Schaukeln ihre Säuglinge hin und her. Beide tragen Jogginghosen, Hausschuhe. Wie alle Frauen hier. Andere Hosen dürfen sie nicht mitbringen. Aber Nicola Paschke hat sich Mühe gegeben mit ihrem Aussehen. Ihre dicken schwarzen Haare zu Zöpfen gebunden, Rouge aufgetragen, unechte Glasohrringe angehängt. Auf dem T-Shirt unter ihrem rosa Traininganzug glitzern Schmetterlinge und Strass.

In ihren Armen hält Paschke Nicola Charmaine, die Charmante. Ihre Tochter ist erst sechs Wochen alt, nicht länger als ein Unterarm. Dichtes Haar, große dunkle Augen.

Nicola: "Es ist für mich schon auch ein Geschenk, dass ich mein Kind hier haben darf überhaupt. Das Einzige was fehlt, die Abwechslung, es müsste mehr Möglichkeiten geben, was zu unternehmen, Beschäftigung z.B. für die Mütter, die kleinere Kinder haben. Aber ich finde es trotzdem hier am schönsten, weil ich mein Kind habe und die Kleine gibt mir auch Kraft. Das ist für mich hier drinnen schon wertvoll."

Drei Meter weiter an den Tisch gelehnt steht Stadler. Dass Mutter und Kind in den ersten Jahren nicht getrennt werden, dass eine straffällig gewordene Frau trotzdem eine gute Mutter sein kann, ist die Idee hinter ihrer Einrichtung. Nur bis Ende des dritten Lebensjahres dürfen die Kinder bleiben. Danach setzt die Erinnerung ein. Kritiker sagen, drei Jahre hinter Gittern ohne äußere Reize reichen, um die Entwicklung eines Kindes zu beeinträchtigen. Das sieht Stadler anders:

Sandra Stadler: "Man muss sich das so vorstellen, dass die Kinder ja hier aufwachsen, das ist für die Kinder ein Stück Normalität, sie kennen ja das andere Umfeld im Großen und Ganzen gar nicht. Und dann ist noch ein Punkt, dass die meisten Kinder, die bei uns sind noch zu klein sind, um das wirklich wahrzunehmen, dass sie draußen ein anderes Leben haben könnten."

Charmaine ist tatsächlich zu klein. Sie wird sich wohl kaum an die Zeit im Gefängnis erinnern. Ihre Mutter hat sich bewährt und zieht heute mit ihr vom geschlossenen in den offenen Vollzug um. Wenn alles gut geht, werden sie in vier Wochen entlassen. 30 Monate hat Nicola dann gesessen. Wegen Diebstahl und Hehlerei. Sie spielt nervös mit dem Ring an ihrem rechten Mittelfinger.

Nicola: "Und dann denk ich halt schon darüber nach: Was habe ich gemacht? Das hätte nicht sein müssen, weil alles kaputt gegangen ist. Du selber gehst irgendwie kaputt dran, also ich hab jetzt wenig Kraft mehr, ich bin kraftlos geworden durch die ganze Haft. Also, mich hat’s fertig gemacht. Ich bin froh, wenn ich jetzt draußen bin."

Nicola wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr dunkler Kajal ist verschmiert. Drei Kinder -- 13, 17 und 18 Jahre alt -- hat sie zurückgelassen und ihren Mann. Im Hafturlaub ist sie zum vierten Mal schwanger geworden. Mit Charmaine. Wie sie sagt, ein Wunschkind. Dann hat ihr Mann sie für eine andere Frau verlassen.

Nicola: "Jetzt muss ich erst mal alles aufbauen wieder. Und des mit vier Kindern und dann bin ich auch nicht mehr so jung, 37. Ich fang halt ganz von vorne an, das ist das Schlimme bei mir. Ich habe noch nicht einmal eine Matratze mehr. Ich hab gar nichts, ich steh da vor nichts."

Nicola schaut auf das Kind in ihren Armen. Charmaine verzieht ihr Gesicht. Fängt an zu schreien.

Nicola: "Was ist denn los?"

Stadler: "Haben Sie jetzt unten noch irgendetwas, was wir mitnehmen müssen?"

Nicola: "Ich hab alles."

Stadler: "Also, gar nichts."

Und dann geht auch schon der Umzug los.

Stadler: "So."

Nicola: "Jetzt ist sie nicht ruhig."

Stadler und ihre Kollegin stellen Tüten und Kisten auf zwei Handwagen. Neben Shampoo, Kleidungsstücken, Aktenordnern, liegen Eier und Brot von Nicolas letztem Einkauf in der JVA.

Die drei Frauen gehen durch den langen kalten Verbindungsgang zum Haupthaus. Auf Nicolas Arm ihr Kind, eingewickelt in eine Decke auf der violette Palmen wachsen, auf dem Kopf ein gelbes. Frotteemützchen.

Stadler: "Lassen Sie sich ja nie wieder sehen hier drinnen."

Weis: "Ja, Sie wissen gar nicht, was das für mich für eine Lehre war. Dieses Gefängnis hier, das vergesse ich nie mehr."

"Sollen wir kommen?"

Letzte Station auf dem Weg zum offenen Vollzug: die Kammer. Hier wird alles, was Nicola mitnimmt, durchsucht. Zum Schluss sie selbst und Charmaine.

"Wir machen jetzt Kontrolle, dass nichts mit raus geht. Das sie nichts schmuggelt, versteckte Briefe für andere oder Tabletten."

Drei Beamtinnen in beigen Hosen und grünen Pullovern machen sich über die Kisten her. Schütteln Shampooflaschen, tasten Teebeutel ab, schrauben Nutellagläser auf, lassen alles durch ihre Finger gleiten. Nicola steht still hinter einem Tresen.

"Gut, da krieg ich jetzt da eine Unterschrift."

"Okay, von uns aus war’s das gewesen. Machen Sie es gut draußen."

"Tschüß."

"So, hereinspaziert."

"Grüß Gott."

"Hallo."

Nicola ist jetzt einen Schritt näher an die Freiheit rangerückt. Im offenen Vollzug zeigt die Beamtin Oswald ihr den Aufenthaltsraum, die Küche, ihre Zelle, den Wickelraum.

"Ja, gut, tun Sie sich einfach ein bisschen einrichten da drüben."

In ihrer Zelle räumt Nicola Tüten und Kisten aus. Eingerichtet ist es hier wie in der Mutter-Kind-Abteilung des geschlossenen Vollzugs. Hell und freundlich. Der große Unterschied: die Frauen werden nicht in ihre Zellen eingesperrt, sondern können sich jederzeit frei im Haus bewegen. Fünf Tage im Monat verbringen sie draußen. Zwei Mal im Monat können sie einkaufen gehen. Eigentlich wollte Nicola gleich heute mit ihrer Zellennachbarin Bianca Hoffmann zum Supermarkt. Aber Nicola ist erschöpft, bleibt in ihrer Zelle. Bianca -- Anfang 40, wache grün-braune Augen, nikotingelbe Zähne -- geht alleine. Mit dabei ihre vier Monate alte Tochter Melissa.

Eine große Halle erstreckt sich vor Bianca und ihrem Kind. In der einen Hand hält Bianca eine Einkaufsliste, mit der anderen schiebt sie den roten Kinderwagen vor sich her. Still liegt Melissa da. Schaut mit aufgerissenen Augen an die Decke, registriert die wechselnde Beleuchtung, die bedudelnde Musik, die bunten Farben. Anderthalb Stunden haben die beiden Zeit für ihren Einkauf. 21,48 Euro zur Verfügung.

Bianca: "Das macht sie ja nicht jeden Tag. Das merkt man bei den Kindern schon, wenn sie mal rauskommen. Sie kommen ja jedes Wochenende raus und ab einem gewissen Alter sind die Augen ganz groß. Ich denke draußen die Kinder kriegen das ja jeden Tag mit oder vielleicht fällt es uns nur so auf und wir machen uns ein schlechtes Gewissen, das kann auch sein."

Bianca läuft durch die Gänge. Studiert die Angebote. Legt Backpulver, Vanillezucker, Kaffee, Sahne, Eier in den Kinderwagen. Sie und die anderen Frauen backen gerne, machen Eiscreme oder Pudding.

Bianca: "Jetzt kaufen wir Babynahrung ..."

Bianca bleibt vor einem Regal mit Hipp Gläschen stehen. Sucht nach Williams-Christ-Birne. 1,77 Euro kostet das Glas. Bei ihrem Budget von 21,48 Euro Luxus.

Bianca: "Irgendwie willst Du den Kindern ja etwas bieten, nicht bieten, aber sagen, Du kannst ja nichts dafür, dass die Mama jetzt so blöd war und musst in die JVA, also sollst Du nicht drunter leiden und dann kauft man alles ein, was sie brauchen."
Bianca fährt den Kinderwagen zur Kasse. Legt ihre Ware aufs Laufband. Band.

Gesamtsumme: 16, 52 Euro. Jetzt muss sich Bianca beeilen. In einer halben Stunde muss sie zurück in der JVA sein.

"Hallo.
Hallo.

Das Restgeld vom Einkauf geben sie bei uns im Büro ab."

Geschafft. Bianca wischt sich Schweißperlen von der Stirn. Zieht ihre Jacke aus. Holt Melissa aus dem Kinderwagen.

"Kassenzettel ist hier.

Kassenzettel brauchen wir. Und das Restgeld wird dann gezählt und kommt dann in ihr Schließfach für den nächsten Einkauf."

Eine Vollzugsbeamtin studiert den Bon, sortiert die Münzen. Plötzlich Unruhe auf dem Gang. Das Telefon klingelt. Ein Baby weint. Eine Mutter schreit. Die Gefangenen tuscheln. Eine Mutter muss zurück in den geschlossenen Vollzug. Ohne Kind.

Bianca: "Der Mama wird das Kind weggenommen, das Kind kommt zu Pflegeeltern innerhalb von zwei Stunden und sie muss rüber in den geschlossenen Vollzug, d.h. nicht auf die Mutter-Kind Abteilung. Das ist natürlich schwer für so eine Mutter, sobald Du ein offenes Verfahren hast, das nachträglich aufkommt, bist Du nicht mehr berechtigt hier im offenen Vollzug auf der Mutter-Kind-Abteilung zu sein."

"Hey, uns läuft die ganze Milch weg, Baby."

Bianca stillt Melissa. Versucht ihre Unruhe nicht auf das Kind zu übertragen. Jede Frau hat nur einmal die Chance mit Kind in die Mutter-Kind-Abteilung des geschlossenen Vollzugs aufgenommen zu werden.
Bianca: "Traurig, gell, so schnell. Ich bin froh, dass bei mir nichts offen ist, kein Verfahren oder so, das läuft."

Bianca hat zwei Jahre wegen Betrugs gesessen. Über die Details möchte sie nicht sprechen. In vier Wochen wird sie auf Bewährung entlassen. Auch Nicola wird dann draußen sein.
In ihrer Zelle räumt sie immer noch Lebensmittel, Pflegeprodukte und Aktenordner aus. Briefe von ihrem Mann, nach Datum geordnet, sagt sie und lacht verschämt. Zum Schluss eine Tüte mit Babykleidung für Charmaine.

"Für mich ist das wieder ganz was Neues, so Babysachen. Ich finde das so süß. Ja, echt. Ich hatte ja nichts mehr, nach 14 Jahren Unterschied, wer hat da noch was."

Es war ein langer Tag für Nicola. Sie setzt sich neben Charmaine aufs Bett und schaut ihr Kind an.

Nicola: "Ich freue mich schon über mein Kind."

19 Uhr. Auch im geschlossenen Vollzug wird es langsam still. Noch eine halbe Stunde, dann ist Einschluss. Franka macht Leon fertig für die Nacht.

"So, jetzt ziehen wir noch den Schlafanzug an."

Sie legt das Kind in sein Bett. Unter die Decke mit dem Teddyaufdruck. Streichelt ihm über den Kopf.

Franka: "Was ich mir wünsche? Ja einfach meinen Frieden, dass ich mir sagen kann, ich kann jetzt bei Null anfangen, ich kann mir noch mal ein neues Leben irgendwo aufbauen, eine Arbeit finden, mein Kind großziehen, einfach ganz normal leben, nichts Großartiges."

Über dem Bettchen baumelt tatsächlich ein Mond – aus Papier. Blau und rund. Für einen Moment scheint sich Frankas Wunsch erfüllt zu haben. Leon liegt da wie jedes andere Kind draußen um diese Zeit auch. Ein ganz normales Kind in seinem Kinderzimmer.