"Himmelsbegräbnis"

Rezensiert von Birgit Koß |
Die Beziehungen zwischen China und Tibet waren lange Zeit geprägt von äußerstem Misstrauen. Für viele Chinesen war das Thema Tibet jahrelang ein Tabu.
Die Journalistin Xinran, 1958 in Beijing geboren, hat dieses Tabu gebrochen, mit einer so außergewöhnlichen Geschichte, dass sie einfach wahr sein muss. Xinran traf vor zehn Jahren in China als bekannte und berühmte Radiojournalistin Shu Wen für zwei Tage, um sich ihre Geschichte anzuhören und sie schließlich zehn Jahre später in London zu veröffentlichen. Dabei schreibt Xiran, dass die Geschichte reifen musste - wie ein guter Wein.

Die Journalistin hatte in China im Radio vielen Frauen eine Möglichkeit geboten, ihre Geschichten zu erzählen. Unter dem Titel "Verborgene Stimmen. Chinesische Frauen erzählen ihr Schicksal", hat sie ihr erstes Buch veröffentlicht. Sie ist ihrer Tradition treu geblieben, unbekannte Frauen ihre Stimme zu leihen, um damit anderen Menschen bestimmte Denkstrukturen und Gefühle nahe zu bringen.

Shu Wen ist eine junge Chinesin, 1931 geboren. Sie wächst heran mit Maos Revolution und der Veränderung vieler Werte. Dazu gehört die Selbstbestimmung der jungen Menschen. Sie müssen nicht mehr arrangierte Ehen eingehen, sondern suchen sich ihren Ehepartner selber. Wen lernt als junge Medizinstudentin ihren Kommilitonen Kejun kennen und lieben.

Als die beiden Liebenden drei Wochen nach ihrer Hochzeit wieder getrennt werden, damit Kejun als Arzt im heldenhaften Krieg in Tibet seine Pflicht erfüllen kann, sind beide unglücklich, beugen sich aber den Gegebenheiten.

Doch als Wen nur 100 Tage später erfährt, dass ihr geliebter Mann tot sein soll, kann sie diese Nachricht nicht glauben. Da sie auch keine näheren Informationen über die Umstände seines Todes erhält, entschließt sie sich im Jahr 1958 nach Tibet zu gehen, um auf eigenen Faust Nachforschungen anzustellen. Das schier unmögliche Unterfangen wird wahr, weil Wen sich als Ärztin bei der Armee verpflichtet.

Sie gelangt mit einem Militärkonvoi nach Tibet. Nächtliche Angriffe fordern Todesopfer - alles ist anders, als sich das die jungen Bauernsöhne in ihrer revolutionären Begeisterung, aber auch die junge Ärztin Wen vorgestellt haben. Sie treffen auf die junge Tibeterin Zhuoma, der Wen mit ihren medizinischen Kenntnissen das Leben rettet. Schnell verkehren sich die Verhältnisse und Zhuoma kann einen tibetischen Angriff auf die chinesischen Einheit abwehren und für Wen und sich freies Geleit erwirken.

Die beiden Frauen verbindet die Liebe zu China, die junge tibetische Adelige hat einige Zeit in China verbracht - und noch viel stärker die Suche nach dem Mann, den sie lieben. Nachdem sie im Unwetter nur knapp dem Tod entrinnen, werden beide Frauen von einer sehr traditionell lebenden tibetischen Hirtenfamilie aufgenommen und gesund gepflegt. Daraus entwickelt sich eine gemeinsame Lebenszeit über viele Jahre, in der Wen mühsam die tibetischen Gepflogenheiten und später auch die Kultur, die allgegenwärtige Religion und schließlich die Sprache erlernt.

Nie verliert sie dabei ihr Ziel – die Suche nach dem geliebten Mann - aus dem Auge. Die Trennung von ihrer Freundin Zhuoma, die entführt wird, macht die Einordnung in die tibetische Familie noch notwendiger.

In ihrer einfühlsamen und sehr klaren Sprache beschreibt Xinran, wie sich die junge Chinesin Wen unmerklich und unter schweren Entbehrungen dem Leben der tibetischen Nomaden anpasst, immer mehr in ihre Kultur und ihre Vorstellungen eintaucht. Dabei lösen sich Zeit und Raum vollständig auf. Als sie schließlich nach über 30 Jahren das Rätsel um den Tod ihres Mannes auflösen kann und die Chance erhält, mit ihren Freunden nach China zurückzukehren, steht sie in ihrer Heimatstadt wieder als Fremde da.

Aber die Antwort auf dieses ungewöhnliche Schicksal ist nicht Enttäuschung, sondern die Bewahrung der Liebe und viele neue Erkenntnisse, die zeigen, dass nicht die äußeren Gegebenheiten allein das Leben bestimmen, sondern vielmehr die innerer Kraft eines jeden Einzelnen. Das diese Beschreibung einen beim Lesen zu Tränen rühren kann, ist sowohl ein Verdienst der Protagonistin der Geschichte als auch das der einfühlsamen Autorin.


Xinran: Himmelsbegräbnis. Ein Buch für Shu Wen.
Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser
Droemer Verlag 2005,174 S., 18,- €