Hildesheimer Projekt "Megapixel"

Wenn aus Fotos Geschichten werden

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Drei Autoren, 1500 Fotos: Die Ergebnisse könnten unterschiedlicher nicht sein. © picture alliance / dpa / Jan-Philipp Strobel
Von Simone Schlosser · 18.05.2015
Freiwillige Überwachung: Vera Rocke hat einen Tag lang alle 30 Sekunden ein Foto ihres Alltags gemacht. Aus diesen 1500 Bildern entstanden drei Geschichten - und aus einem Projekt über Überwachung wurde eines über Intimität.
Die kleine Kamera an der Jacke von Vera Rocke ist so groß wie ein Dominostein. Sie macht jetzt ein Foto. Und in dreißig Sekunden macht sie wieder eins. Automatisch. Einen Tag lang ist die Hildesheimerin freiwillig mit dieser Kamera herum gelaufen.
"Ich habe mitgemacht, weil ich es total witzig finde, einen ganzen Tag zu dokumentieren. Obwohl es wirklich ein einfacher, ganz normaler Alltag gewesen ist, absolut unspektakulär."
Fast 1500 Bilder sind auf diese Weise entstanden: Das Erste noch im Schlafzimmer direkt nach dem Aufstehen, dann im Auto auf dem Weg ins Büro, nachmittags beim Einkaufen im Supermarkt. Das Protokoll einer freiwilligen Überwachung. Aber nur für sich selbst hat Vera Rocke dieses Experiment nicht gemacht. Die Fotos wurden weitergegeben an die Autorin Lucy Fricke mit dem Auftrag, daraus eine Geschichte zu schreiben. Eine spielerische Inszenierung von Alltagsüberwachung. Die Idee dazu stammt von den beiden Kulturwissenschaftlern Clara Ehrenwerth und Victor Kümel:
"Überwachung betont das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Autoren und denen, die sozusagen sich preisgeben oder offen legen, transparent werden. (...) Wir haben Autoren, die wir ermächtigen zu auktorialen Erzählern, in dem sie sehr viel über reale Personen wissen und über die verfügen können. Mit denen fiktiv machen können was sie wollen."
Überrascht von der Intimität und Nähe
Die Autorin Lucy Fricke fand es reizvoll, einen derartigen Einblick in das Leben eines fremden Menschen zu bekommen, doch beim Schreiben ist sie überrascht davon, welche Wirkung diese Nähe auf sie hat:
"Ich weiß ja nicht mal, was meine besten Freunde alle 30 Sekunden tun. Das ist ja so eine Nähe, die ist so gar nicht richtig greifbar, aber gleichzeitig ist es so intim. Sie ist mir irgendwie näher als Freunde."
Diese Intimität schränkt sie beim Schreiben ein. Einerseits soll eine gute Geschichte entstehen. Andererseits möchte sie die Privatsphäre von Vera Rocke nicht verletzen. Dann bleibt Lucy Fricke an einem Foto hängen, dass eine Katze zeigt, die in enger Vertrautheit mit dem Ehemann im Bett liegt. Plötzlich ist die Idee da. Auf einer öffentlichen Lesung stellt Lucy Fricke die fertige Geschichte vor: "Der Tag, an dem sie begann, Katzen zu hassen".
Ein Mann im Bett. Das ist immer gut, denkt sie, wenn da ein Mann liegt, einer den man kennt. (...) Ihr Blick wandert weiter, sie dreht den Kopf, sieht dieses Tier und seine Hand, die daneben ruht. Auf ihrem Platz, auf dem Platz, der ihr gehören sollte, sitzt das Tier und guckt zur Seite, beschämt. Und er peinlich berührt.
Parallel zu der Lesung werden die Fotos eingeblendet: die Katze im Ehebett, der Ehemann daneben, Katze und Ehemann in vertrauter Einigkeit.
Frauen und Katzen sind ja so eine Sache, aber Männer und Katzen, da ist Vorsicht geboten. Wenn ein Mann mit einer Katze, wenn ein Mann mit einer Katze im Bett liegt, wenn er so mit einer im Bett liegt, wenn er. Da hakt etwas aus bei ihr, da dreht etwas durch, das ist schon kein Zweifel mehr, das ist Verachtung, das ist Panik.
Keine Vorgaben für die Autoren
Die multimediale Geschichte aus Bild und Text kommt an. Nicht nur beim Publikum. Sondern auch bei der Überwachten Vera Rocke.
"Es ist tatsächlich ganz vieles, was nicht stimmt, was also wirklich eine Geschichte ist. Und dann hatte ich, Tatsache, auch so ein, zwei Momente, wo ich dachte, huch, das bin ich, das kann ich sein. Also ohne dass wir uns nur kennen, hat sie tatsächlich da einen Punkt getroffen."
Die beiden Initiatoren hatten den Autoren bewusst keine Vorgaben gemacht. Dadurch sind drei sehr unterschiedliche Texte entstanden. Während Heinz Helle eine Art bebildertes Gedicht geschrieben hat, in dem er über das Ich im Wechselspiel zwischen Kamera, Protagonist und Autor reflektiert, hat Jakob Nolte die Fotos instrumentalisiert, um davon ausgehend den Tag einer komplett anderen Person zu erzählen. Das Thema Überwachung hat für alle Autoren eine untergeordnete Rolle gespielt. Stattdessen haben sie das Projekt in eine Richtung gelenkt, mit der die Initiatoren vorher nicht gerechnet hatten, die sie dafür jetzt umso bemerkenswerter finden:
"Wir haben schon sehr aus einem Überwachungs- oder Selbstüberwachungskontext darüber nachgedacht. (…) Jetzt wo wir die Ergebnisse gesehen haben, zum einen erstmal die Fotos, aber dann auch was die Autoren daraus gemacht haben, was jetzt für Texte daraus entstanden sind, haben wir eigentlich eher den Eindruck, es ist auch ein Projekt über Überwachung, aber es ist auch ganz stark ein Projekt über Intimität geworden."
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