"Hier ist nichts in Stein gemeißelt"

Nikolaus Schneider im Gespräch mit Philipp Gessler |
Seitdem der Rat der Evangelischen Kirche Deutschland ein Papier zum Thema Familie veröffentlicht hat, gibt es heftige Kritik. Der Vorwurf: Die bürgerliche Ehe würde darin ab- und Patchwork-Familien und homosexuelle Partnerschaften aufgewertet. Veränderungen machten Angst und das führe zu heftigen Reaktionen, so Schneider.
Philipp Gessler: Mitte Juni gab der Rat der EKD, also das oberste Exekutivorgan der Evangelischen Kirche in Deutschland, eine sogenannte Orientierungshilfe zum Thema Familie heraus, 160 Seiten waren es, nicht ganz leicht zu lesen, unter dem etwas sperrigen Titel "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken". Nun ist Papier geduldig, auch in der EKD – und die guten deutschen Protestanten publizieren ja seit Jahrzehnten nicht gerade wenig.

Doch dieses Dokument war wie Dynamit: Selten hat ein Schreiben der EKD für so viel Streit gesorgt, oder sagen wir höflicher, Diskussionen angeregt, innerhalb, aber auch außerhalb der Evangelischen Kirche. Ein Hauptstreitpunkt: Wird darin etwa die bürgerliche, heterosexuelle Ehe abgewertet, zugunsten von – Pfui Teufel! – Patchwork-Familien ohne Trauschein, homosexuellen Partnerschaften gar? Das Für und Wider dieses Papiers wurde nun schon des Öfteren ausführlich erörtert, auch in dieser Sendung.

Aber nach einem Vierteljahr der immer noch brodelnden Diskussion, ja, neuer Unterschriften-Petitionen für und gegen das Papier wollte ich vom Ratsvorsitzenden der EKD, Nikolaus Schneider, dann doch wissen: Warum hat gerade diese Schrift der EKD so geknallt? Was sind die tieferen Ursachen? Was sagt uns dies über den Zustand der Evangelischen Kirche – und vielleicht auch der deutschen Gesellschaft? Meine erste Frage an ihn aber war, ob ihn diese heftige, weiter anhaltende Debatte eigentlich überrascht hat.

Nikolaus Schneider: Über manche Reaktion bin ich überrascht, mich wundert aber nicht, dass wir heftig und intensiv diskutieren. Das hat für meine Begriffe im Wesentlichen mit zwei Gründen zu tun. Grund eins: Wir sind in einem Veränderungsprozess begriffen. Veränderungen lösen Verunsicherungen aus. Verunsicherungen führen zu Ängsten. Und das provoziert auch Reaktionen, die dann heftig ausfallen können. Das ist auf diesem Hintergrund also völlig in Ordnung.

Gessler: Was sind das denn für große Veränderungen, die Sie da ansprechen?

Schneider: Wir merken, dass fest gefügte Formen infrage gestellt werden, sich zum Teil auch auflösen. Das hat mit äußeren Veränderungen zu tun. Die Mobilitätsanforderungen an junge Leute sind unglaublich gestiegen. Ich sehe das ja bei meinen eigenen Kindern. An einem Ort zu wohnen mit dem Menschen, den man liebt, und dann Familie und Ehe zu gründen, ist sehr kompliziert geworden, es geht gar nicht mehr so einfach und selbstverständlich.

Das Zweite ist: Der Anspruch der Menschen, Institutionen sich nicht nur einfach anzuvertrauen, sondern zu verstehen, was die Institutionen wollen und sich selber auch ein kritisches Urteil herauszunehmen, das ist auch gestiegen. Und diese Veränderungen, die zu neuen Formen des Zusammenlebens führen, die brauchen eben eine neue Betrachtung, und da kann man nicht einfach sagen, es bleibt alles, wie es ist, sondern man muss sagen: Die neuen Formen erfordern Antworten, und welche Antworten geben wir – und auf diesem Hintergrund dieses Papier, das ja sehr bewusst Orientierungshilfe heißt, Hilfe zur Orientierung in verunsichernden Zeiten.

Gessler: Findet hier auch eine Art Kulturkampf statt innerhalb der evangelischen Kirche? Also hier, sagen wir mal, die neue intellektuelle, eher städtische Elite der Kirche, die solche neuen Lebens- und Liebesformen kennt, und auf der anderen Seite die eher althergebrachte, bodenständige, vielleicht eher ländliche Basis, der das alles eher fremd ist und die ihr altes traditionelles heterosexuelles Eheverständnis nicht richtig gewürdigt sieht?

Schneider: Also der Begriff Kulturkampf ist mir zu hoch. Da sind Leute ins Gefängnis gegangen, als es den Kulturkampf wirklich gab. Was wir haben, ist ein Aufeinanderprallen von Ungleichzeitigkeiten. Es wird in der Tat in verschiedenen Regionen verschieden gelebt. Es wird in verschiedenen kulturellen Milieus verschieden gelebt. Und das Ganze in einen Zusammenhang zu bringen, der dann einen verbindlichen Ordnungsrahmen für alle Formen vorgibt, das ist so gut wie unmöglich geworden. Aus diesem Grunde hat das Papier ja in sehr konservativer Weise auf die Werte gesetzt und für viele in unzumutbarer Weise die Formen vernachlässigt.

Gessler: Warum sind denn gerade konservative Christen aber auch konservative Medien so auf dieses Papier angesprungen?

Schneider: Ich denke, das hat mit der Beobachtung dieser Veränderungen zu tun: Die Sorge, dass die Orientierung in Veränderung verloren geht, dass die Basis des Lebens in Veränderungen angetastet wird, diese Sorge ist da und die kann ich auch verstehen. Und die Antworten, die von manchen erwartet wurde, die hat das Papier nicht gegeben.

Gessler: Können Sie das konkreter sagen?

Schneider: Konkret heißt das, dass das Papier nicht gesagt hat, die traditionelle Ehe und Familie, in der nach wie vor die Mehrheit der Menschen zusammenlebt, ist die gebotene Form, das gebotene Maß für alle. Diese Antwort hat das Papier nicht gegeben, und darüber waren doch eine Menge Leute richtig erbost. Und das Zweite ist: Das Papier hat darauf verzichtet, institutionelle Formen einzufordern oder vorzuschreiben, sondern es hat eine Form vorausgesetzt, nämlich die uns bekannte, traditionelle Ehe, die zur Familie führt, hat aber die neuen Formen, etwa Alleinerziehende, durchaus mit unter den Ehebegriff genommen.

Und das ist etwas, was Menschen auch verunsichert hat, also die Frage: Kann man andere Formen des Zusammenlebens als die bekannte eheliche, die wir kennen, kann man die auch als Familie wertschätzen? Und vielleicht war das jetzt ein sehr schneller Schritt. Vielleicht hätte man erst mal diesen Schritt diskutieren müssen, ob das so geht. Aber es ist eine Realität, da würde ich der Schrift völlig zustimmen, es ist eine Realität in unserer Gesellschaft, eine Realität des Lebens, dass so gelebt wird. Daran kann man nicht einfach vorbeigehen. Und ihr einen bestimmten Wert auch zuzusprechen, das ist schon richtig.

Gessler: Könnte das vielleicht auch mit dem Bundestagswahlkampf zu tun haben, dass manche das Thema so hochgezogen haben, damit das bürgerliche Deutschland sozusagen sich vereint in Empörung?

Schneider: Ich vermute, dass das sogar sehr viel mit dem Bundestagswahlkampf zu tun hat, denn die im Wesentlichen politische Form der Betrachtung dieses Papiers, die geht ja nicht von den Inhalten aus und bewertet die dann und schaut dann nach links und nach rechts, wie das politisch einzuordnen ist, sondern die geht von der eigenen politischen Norm aus und dem, was im eigenen politischen Lager gedacht wird, ordnet die Schrift zu und haut dann unter dieser Überschrift drauf oder findet das Ganze gut, um das mal abgekürzt zu sagen. Das Papier wird also rot-grün identifiziert, und alles, was Schwarz-Gelb will oder sich mit Schwarz-Gelb identifiziert, ist deshalb dann höchst erbost, denn sie verstehen das das als eine unfaire und von ihnen keinesfalls gewünschte Form der Wahlkampfhilfe.

Gessler: Sie lehnen, wenn ich Sie hier richtig verstehe, Änderungen im Familienpapier ja ab. Mir ist nicht ganz klar, warum eigentlich. Wäre es denn nach so einer intensiven Diskussion innerhalb der Kirche und auch außerhalb und der großen Kritik, die es auch gab, nicht für gerade Christen, die ja selbst Korrekturen nicht anstößig finden, kein Problem, das zu korrigieren?

Schneider: Ich bin immer bereit zur Korrektur, natürlich. Aber der Begriff "ausführliche Diskussion", der wird von uns beiden offensichtlich sehr unterschiedlich verstanden. Ich finde, wir sind am Anfang einer Debatte und wir werden jetzt ein wissenschaftliches Symposium dazu haben. Und ich möchte in aller Ruhe und intensiv darüber nachdenken, bevor ich mich dieser Frage ernsthaft stelle. Ich kann vor der Hand nur sagen: Ich bin nach wie vor von diesem Papier überzeugt.

Ich sehe Schwächen darin, dass wir nicht überzeugend genug vermittelt haben, was die Zielrichtung des Papieres ist, in welcher Tradition es steht, was dieses Papier alles als selbstverständlich voraussetzt – das haben wir nicht hinreichend vermittelt. Aber das heißt ja nicht, dass ich das Papier dann in den Grundaussagen verändern muss. Das will ich jetzt erst mal genauer abklopfen, da will ich mich der Diskussion stellen. Und wenn wir dann zu der Meinung kommen, dass da Veränderungen nötig sind, dann werden wir sie natürlich machen, denn hier ist nichts in Stein gemeißelt, wir sind da in einem offenen Diskussionsprozess.

Gessler: Glauben Sie denn, dass die Kritiker des Papiers durch dieses Symposium, das Ende des Monats stattfinden wird, sich besänftigen lassen?

Schneider: Ich will nicht besänftigen, sondern ich gehe davon aus, dass alle, die an einem Gespräch teilnehmen, lernfähig und lernbereit sind. Ich erwarte von niemandem, dass er da hinkommt und dass er zu allem Ja und Amen sagt. Aber ich erwarte von jedem, dass er in der Lage ist, seine eigenen Positionen auch dem kritischen Diskurs auszusetzen. Das gilt für alle.

Und insofern möchte ich von vornherein nicht auf ein Niveau kommen, was heißt, es gibt Kritiker und die müssen beruhigt werden, sondern ich will auf ein Niveau kommen, das heißt: Wir haben ja eine bestimmte gesellschaftliche Wahrnehmung, wir haben sie verbunden mit bestimmten theologischen Positionen. Ob das angemessen war, ob das richtig war, wie wir das durchgeführt haben, was dafür spricht oder was dagegen spricht – das soll wirklich auf akademischem Niveau diskutiert werden.

Und dann werden wir das auswerten und werden sehen, was wir dann weiter machen. Aber das ist doch bitte schön ein offener Prozess. Wir gehen doch hier nicht um wie verfeindete Parteien, wo die eine die andere überwältigen will. Also einem solchem Verständnis eines solchen Prozesses, dem will ich von vornherein widersprechen, und ich kann nur sagen: Ich bin nicht bereit, mich auf ein solches Niveau zu begeben.

Gessler: Nun wird ja in der EKD nicht gerade wenig Papier produziert. Manches wird kaum wahrgenommen. Sind Sie insgeheim vielleicht froh, dass tatsächlich mal ein Papier so eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst hat?

Schneider: Die gesellschaftliche Debatte war dran, das merkt man hier. Sie geht eigentlich auch schon eine gewisse Zeit, etwa die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes haben ja auch Diskussionen hervorgerufen und sind im weitesten Sinne auch in diesem Kontext zu sehen. Also die Debatte ist dran. Wir wollten zu dieser Debatte auch einen Beitrag leisten, und ich hoffe, dass wir hier insgesamt zu einer weiteren qualifizierten gesellschaftlichen Diskussion kommen. Wenn es gelungen ist, auf Dauer dazu einen substanziellen Beitrag zu leisten, dann freue ich mich sehr darüber.

Aber wissen Sie, was substanziell heißt, hat immer zwei Seiten: Die eine ist, was man selber macht und arbeitet – ich bin schon davon überzeugt, dass wir da substanziell gearbeitet haben –, aber auch die Aufnahme und die weitere Diskussion muss substanziell sein, sonst kann man noch so viel Mühe in die Erarbeitung setzen, das läuft dann ins Leere. Also das muss insgesamt ein solcher substanzieller Prozess werden.

Gessler: Die evangelischen Frauen in Deutschland und die evangelische Männerarbeit haben sich Ende Juni bei einer Fachkonferenz in Kassel für eine größere kirchliche Würdigung etwa der polyamoren Lebensformen, ja, sogar der One-Night-Stands ausgesprochen, und sie wollen damit das geplante Sexualethikpapier der EKD auch beeinflussen. Wenn Sie so was hören, wird Ihnen da angst und bange?

Schneider: Ja, das empfinde ich schon als ein Stückchen revolutionär, das will ich deutlich sagen. Nein, angst und bange wird mir sowieso nicht, also wir haben solche Diskussionen natürlich zu führen und können die auch gut aushalten. Allerdings, so polyamore Vorstellungen sind mir doch sehr fremd. Und ich habe nicht das Bestreben, in biblische Zeiten zurückzugehen, wo Vielweiberei möglich war und dass man neben Hauptfrauen noch Nebenfrauen hatte.

Also das ist für mich keine verheißungsvolle Form, in die möchte ich auf keinen Fall zurück. Im Übrigen ist Sexualität verantwortlich zu leben, und das geht für jede Form von Sexualität. Dass darüber auch der sogenannte One-Night-Stand, dass darüber nachgedacht werden muss, was man zu ihm sagen kann, das finde ich richtig. Aber dass dieses sozusagen das Idealbild sexuellen Lebens sein soll, das kann ich mir nun auch überhaupt nicht vorstellen.

Gessler: Wurde denn das ursprünglich, wirklich ganz ursprünglich für den Herbst anvisierte Sexualethikpapier der EKD verschoben, weil man nicht wieder neuen Ärger haben wollte?

Schneider: Das Papier ist noch gar nicht verschoben worden, sondern die bisherige Bearbeitung ist noch nicht so weit, dass wir sagen können, wann wir dieses Papier veröffentlichen. Aber eins möchte ich deutlich sagen: Das hat nichts mit Mut oder Feigheit zu tun, sondern ich halte es für völlig richtig, dass ein Rat sagt: Nun haben wir wirklich eine große Debatte und die wollen wir nun intensiv führen und der wollen wir uns widmen und auf die wollen wir uns konzentrieren. Und wenn wir das abgearbeitet haben, dann schauen wir weiter. Und nur so ist das einzuordnen, dass der Rat jetzt nicht sofort einen Termin bekannt gibt, an dem das Sexualitätspapier veröffentlicht wird.

Gessler: Wann rechnen Sie denn damit, dass es veröffentlicht wird?

Schneider: Ich rechne im Augenblick gar nicht, das habe ich ja eben deutlich beschrieben. Ich bin froh, wenn wir erst mal zu einer wirklich geordneten und guten Debatte zu dem Familienpapier kommen.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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