Hideo Yokoyama: "2"

Der lange Schatten der Bürokratie

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Buchcover zu "2" von Hideo Yokoyama
Nach 64 kommt 2: Kurzgeschichten über japanische Polizeiarbeit. © Atrium Verlag
Von Ulrich Noller · 25.10.2019
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Nach dem epochalen Kriminalroman "64" sind jetzt zwei Erzählungen des japanischen Autors Hideo Yokoyama erschienen. War der Roman wegen seiner Kleinteiligkeit noch umstritten, überzeugen die Erzählungen nun durch ihre spannende Konstruktion.
Wie kann man Polizeiarbeit möglichst aussagekräftig erzählen? Und was lässt sich auf welche Weise transportieren an Gesellschaftlichen in dieser Schilderung des Alltags von polizeilichen Ermittlern? Das Sub-Genre des Polizeiromans bietet zwischen Literatur und Fernsehen/Streaming in der Krimi-Schwemme der letzten Jahre jede Menge Antworten auf diese Frage. Die Möglichkeiten sind bekannt, das Narrativ scheint ausgereizt, wirklich Neues ist da kaum noch zu erwarten.
Dachten viele zumindest bis vor kurzem. Dann wurde Hideo Yokoyamas fundamentaler Roman "64" ins Deutsche übersetzt: Ein japanisches Police procedural aus den 1990er-Jahren, bei dem nicht das Verbrechen, nicht die Ermittlungsarbeit, nicht die Milieus, nicht das Private der Beamten und schon gar nicht irgendwelche Aktion im Zentrum stehen, sondern vor allem die organisatorischen Strukturen der Behörde – die wiederum in sich, nicht über die aufzuklärenden Verbrechen die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln. Das Gesellschaftliche rückt auf diese Weise viel unmittelbarer ins Zentrum des Interesses, ist nicht bloß ein Transportgut der Verbrechensgeschichte - trotzdem bleibt der Polizeiroman ein Polizeiroman, und zwar voll und ganz.

Vorstudien zum Opus magnum

"64" war im letzten Jahr hierzulande ein immenser Überraschungserfolg – wegen seiner umfangreichen Kleinteiligkeit allerdings auch umstritten. Jetzt legt der Atrium Verlag mit dem frisch übersetzten Erzählungsband "2" zwei deutlich weniger voluminöse Texte nach, die man als Vorstudien zu Yokoyamas Opus magnum verstehen kann.
"Zeit der Schatten" begleitet einen Funktionär, der für die jährlichen Versetzungen innerhalb des Apparats zuständig ist, eine hoch komplexe Angelegenheit, an der er fast verzweifelt, weil ein hoher Beamter sich weigert, seinen Posten zu verlassen, so dass das ganze Puzzle nicht mehr aufgehen kann. Um nicht an seiner Aufgabe - unehrenhaft - zu scheitern, muss Futawatari zum Ermittler werden und herausfinden, warum der Beamte einen solchen Affront wagt.

Exzellent konstruierte Geschichten

In "Schwarze Linien", der zweiten Erzählung, geht es um eine junge Beamtin, die nach einem großen Ermittlungserfolg, plötzlich nicht mehr zum Dienst erscheint, ebenfalls ein eigentlich undenkbares Tabu. Gruppenleiterin Tomoko Nanao, die für alle weiblichen Ermittler zuständig ist, muss das Verbrechen, das zum Erfolg führte, noch mal neu aufklären und ganz anders, um herauszufinden, was es mit dem Verschwinden der Kollegin auf sich hat. Thema also: Die Rolle von Frauen in der Behörde (und in der Gesellschaft).
Hideo Yokoyama ist ein sorgsamer und bedachter Erzähler, der seine Geschichten vor allem exzellent zu konstruieren weiß; mit listigen Überraschungsmomenten, die Spannung entsteht nicht plakativ rund um das Verbrechen herum, sie entwickelt sich vielmehr eben aus der Struktur heraus, eben auch aus der Konstruktion der Story. Beeindruckend auch, wie elegant Yokoyama einen Bogen schlägt zwischen seinem bedacht nüchtern-konzentrierten Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und einer nuancierten Empathie, die einem beim Lesen die Charaktere nahe bringt, ohne ihnen unangemessen nahe zu kommen.

Hideo Yokoyama: "2"
Aus dem Japanischen von Sabine Roth
Atrium Verlag, Zürich 2019
144 Seiten, 16 Euro

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